Dichterbriefe – Folge 4: Deine ferne Stimme – Christophe Fricker schreibt Manuel R. Goldschmidt

Christophe Fricker schreibt jeweils am 1. des Monats einem Dichterfreund, dessen Buch er gerade gelesen hat. Die Texte sind eine Mischung aus Offenem Brief zu Lyrik und Gesellschaft, bewusst parteiischer Rezension und vertrautem Austausch. Und damit hoffentlich auch weniger langweilig als Rezensionen, die ihre eigene Voreingenommenheit vertuschen.

 

Lieber Manuel,

meinen Neujahrsbrief schreibe ich Dir, weil Du mich am Neujahrstag vor vielen Jahren zum ersten Mal in Deinem traumhaften Haus willkommen geheißen hast. Ein Haus mit gastlicher Küche, verstreuten Zimmern, tiefen Sesseln, alten Büchern, aufgeschlossenen Kunstwerken, einem großen Saal, einem verwinkelten Garten, der Nähe zum Spazierengehen mit Blick über den schönsten Teil des Rheins … in Deinem Haus kann ich ganz ich selbst sein. Es dauerte immer etwas, bis »die Seele auch ankommt«, wenn ich körperlich schon da war, aber bald gehören dann Raum und Menschen, Brot und Wein, Bücher und Papier, Sonne und Wege zu einer Welt, »wo landschaft geistig wird«. Neulich war ich zum allerersten Mal allein dort und habe das Haus, seine Farben und Winkel und Wege noch einmal ganz anders erlebt – ich hatte sogar ein bisschen das eigenartige Gefühl, in das Haus verliebt zu sein …

Vor mir liegt Dein Buch, Gedichte, mit einer handgeschriebenen Widmung aus dem Januar 2006 – ein Jahrzehnt ist vergangen. Der Autorenname lautet: Manuel Claussner. So hießt Du nicht wirklich, nur auf dem Papier, als Dichter, also vielleicht doch »wirklich«, weil Dir die Wirklichkeit der Dichtung viel wichtiger war als der unverwandelte Alltag. »Claussner« ist ein Pseudonym und eine Widmung. Claus hieß Dein Freund, und unter seinem Zeichen ist Dein Werk entstanden. Dein Buch gab es nie zu kaufen. Claus stellte es zu Deinem 80. Geburtstag zusammen, ließ 80 Exemplare drucken, und Du schenktest sie Deinen Freunden. Du warst erst etwas geknickt, weil Dir die Auswahl zu schmal vorkam – immerhin waren doch im Lauf der Jahrzehnte so viele schöne Gedichte erschienen, alle in der Zeitschrift Castrum Peregrini. Aber wie immer gingst Du davon aus, dass Claus es schon richtig gemacht haben wird.

Claus war stets Dein erster Leser – ein liebender und ein beherzt eingreifender Leser. Er strich Zeilen, die er »zu negativ« fand, stellte die Reihenfolge von Gedichten innerhalb eines Zyklus um, und einmal bestand seine Korrektur darin, dass er eine Widmung hinzufügte (»Für MB«), weil er erkannte, wem das Gedicht zugesprochen war – er hielt es für eine Frage der dichterischen Ehrlichkeit, das auch auszusprechen.

Am Telefon klangst Du oft verzweifelt: »Ich habe kein Gedicht geschrieben. Ich kann es nicht mehr.« Du hattest Angst davor, nie mehr zu dichten. Dabei war Dein ganzes Leben ein dichterisches. Warum schriebst Du so lange nicht? Ich konnte das nicht verstehen. Ich konnte lange auch nicht verstehen, was Du eigentlich für ein Dichter warst: Du hattest keinen Kontakt mit Zeitschriften oder Verlagen, außer der Zeitschrift und dem Verlag des Castrum Peregrini, die Du nach dem Krieg in Amsterdam mit begründet hattest. Du gingst nicht zu Lesungen, last überhaupt fast nichts von Autoren, die Du nicht kanntest, und nur sehr wenig von dem, was in den letzten Jahrzehnten erschienen war. Du hattest mit »der Lyrik« nichts zu tun. Wunder, Tränen, Herbstboten und Lebenstraum – solche Wörter gab es bei Dir, und sie schreckten mich ab.

Ich habe Dir das nie so gesagt, als Du noch gelebt hast. Nicht aus Schüchternheit oder Takt (das waren nie meine Stärken), sondern aus so etwas wie einer Ehrfurcht, die mir aber nie bewusst war und die Du mit einem Kalauer zerstäubt hättest, wenn sie zum Vorschein gekommen wäre. Ehrfurcht wovor? Dass Du es ganz ohne Betriebsnudelei geschafft hast, ein Leben lang schöne Bücher zu produzieren, mit alten und immer wieder neuen Freunden gemeinsam Gedichte zu lesen und, wenn es sein musste, auch darüber zu sprechen. Dein dichterisches Leben war ein mündliches: Du last nur mit Mühe, konntest aber alles, was man Dir vorlas, sofort erfassen und lange behalten. Das Interpretieren, das Übersetzen, das Auswendiglernen waren nicht Deine Sache, aber ein Abend war Dir wenig wert, der nicht in ein Gedicht mündete.

Deine Gedichte sind mir durch die schöne Sammlung inzwischen näher gekommen. Nicht alle, aber viele. Wunderbar sind in Deinen ganz frühen Arbeiten zum Beispiel gerade die Schlusszeilen. In einem stehst Du am Hafen und sehnst Dich nach der Fahrt. Ein Abenteuer malst Du Dir aus, und dann schreibst Du: »Ich aber steh am hafenwall und wart | Gleich einem der die welle scheute | Auf fremde boote und auf fremde beute.« Während »gleich« und »scheute« selbst Anfang der 1950er Jahre schon etwas unangenehm Süßliches hatten, sind das ruhige Maß des letzten Verses, der Reim und der idiomatische Ausdruck wirklich gelungen.

Die gleiche Entwicklung vom Affektierten zum Einleuchtenden finde ich auch in den folgenden Gedichten: »Ich ruhte lange wol auf deinem arm | Und meine schläfe pochte ihn dir warm.« Und: »Wie war mir einst das land so lieb | Nur muscheln sand und salz das blieb.« Und: »Noch lange klingt dein rufen durch das laub | Ich bin für deine ferne stimme taub.« Claus kann ich nicht mehr fragen, welchen Anteil er an diesen Zeilen hatte – auch er ist gestorben. Er hätte es mir auch nicht gesagt. Und es kommt darauf auch überhaupt nicht an.

Ehrfurcht hatte ich wohl auch davor, dass Du so unnachgiebig in Dich und in Dein Leben hineinhorchtest: Dichten war für Dich Ausdruck und Mitteilung. Ausdruck eines inneren Lebens, auch eines mit anderen geteilten inneren Lebens, und Mitteilung dessen, was wichtig ist. Deshalb sind Deine Gedichte Agonie und Agon, voller Träume und Traumlandschaften, heil und heiter und qualvoll und einsam. Es sind Einladungen und maßgebliche Erinnerungen. Mitteilung natürlich nicht einer Öffentlichkeit, die es für die Dichtung auch gar nicht gibt, in Zeitschriften, die kaum einer liest, sondern Gespräch mit Freunden, diesem bestimmten und jenem bestimmten geliebten Menschen. All das ist furchtbar unmodern, unbetrieblich, daher kam es mir so komisch vor. Und heute bewundere ich das. Ich schreibe Dir das in einem öffentlichen Brief auf einem viel gelesenen Blog, aber trösten mag Dich, dass ich auf das Buch nicht verlinken kann – es kommt im Netz nicht vor.

Das Persönliche, Geheimnisgesättigte Deiner Gedichte drückt sich in vielen Anreden aus, die Du Deinen Freunden zusprichst, oft im Rückblick. Manche sind undurchsichtig: »Du bist und bist mehr | Ein erinnern: der sinn der kuss«. Viele sind von Dank geprägt: »Nun weiss ich wieder wem ich lebe, | Seh dein du in meinen träumen« Dass Du im Zeichen Stefan Georges erzogen wurdest, drückt sich in Motiven von Dienst und Erwählung aus. Über den »könig« sagst Du, wiederum dankbar staunend: »Wer hat die gluten denn in uns beschworen«, wenn nicht er! Dein Glück – auch dieses altmodische Ideal hast Du nie aufgegeben, auch nicht in dunklen Kriegstagen, die Du untergetaucht im nazi-besetzten Amsterdam verbrachtest, und nicht an einsam gesättigten Abenden der langen, für Dich nie zuende gegangenen Nachkriegszeit – dein Glücl lag im Gefühl der Zugehörigkeit, wenn Du sagen konntest: »Wir waren mitten unter ihnen: | Den heiligen den weisen«.

Gedichte waren, um es nun doch einmal in etablierter literarisch-analytischer Sprache zu sagen, Dein Genre. Aber Du warst auch ein virutoser Postkartenschreiber, ein gestaltender Künstler im Zuhören, ein ausdrucksstarker Meister des Späten. Das Verwinkelte, Ungelöste hat Dich gereizt – Du hast es auf den Bildern von Charles Meryon und Kurt Paesler gesehen, in Michaelangelos Sklaven beweint. Und Du hast es in Gedichten ausgedrückt, die mir nun doch näher gekommen sind, nicht zuletzt durch diesen Brief, den Du nie lesen wirst.

Sei am Neujahrstag gegrüßt von
Christophe
 

Christophe Fricker. Foto: © Chiara Dazi
Christophe Fricker.
Foto: © Chiara Dazi

Christophe Fricker, geb. 1978, schreibt über die Möglichkeiten von Freundschaft, die Grenzen des Wissens und die Unwägbarkeiten der Mobilität. Mit Tom Nolan und Timothy J. Senior veröffentlichte er den zweisprachigen, illustrierten Gedichtband »Meet Your Party«. 2015 gab er die »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung« zwischen Ernst Jünger und André Müller heraus, die das Deutschlandradio eine »Sensation« nannte. Frickers Buch »Stefan George: Gedichte für Dich«, eine Einführung in das Werk Georges, stand auf Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste. Für den Gedichtband »Das schöne Auge des Betrachters« wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Dichterbriefe« finden Sie hier.

3 Kommentare

  1. Es gefällt mir, dass einem toten Freund ein Brief geschrieben wird, so dass die noch lebenden Freunde jenes toten Freundes ihn an seiner Stelle lesen können. Mir gefällt, dass seinen unbekannten Gedichten so viel Aufmerksamkeit gilt. M

  2. Ein schöner und anrührender Brief, der alles wieder aufruft: Manuel in seinem Haus hoch über dem Rheintal, seine Courtoisie gegenüber Gästen, seine Aufmerksamkeit mit Freunden, seine Liebe zum Gedicht und zum Gespräch, seine Achtung vor allem, was ihn umgab – eine Sensibilität, wie sie nur selten zu finden ist und die ihn liebenswert (und leider auch verletzlich) machte. Wie nur Wenige hat er vermocht, an seinen Träumen festzuhalten bis in den Alltag hinein, und nie hat er den geistigen Kosmos verlassen, der ihn wie seine Freunde geprägt hat.
    Dank für diese Erinnerung!
    Mor

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