»Flügelwechsel« von Albert Ostermaier

rezensiert von Paul-Henri Campbell

»Flügelwechsel« von Albert OstermaierAlbert Ostermaier »Flügelwechsel«

Der neue Gedichtband von Albert Ostermaier trägt den Titel »Flügelwechsel« (Insel Verlag 2014) und hat sogar Oliver Kahn dazu animiert ein Vorwort als Tribut an den Dichter zu verfassen. Aus der Feder des Schriftstellers wird der Fußball zu einem kosmischen Ereignis, ein Moment darin sämtliche Gesellschaftsspiele zusammenprallen mit dem Lauf des Universums. Den Sphärenklang dieser Konvergenz bestimmt Ostermaier als Ode, die poetische Urform für das Erhabene. Und die Oden an den großen Kahn verwandeln den Bolzplatz zum hermeneutischen Feld, darauf der Torwart zum Gatekeeper des Mysteriums des Willens, des Schicksals und des Unberechenbaren wird. »ist es für einen moment auch / könnte er doch verweilen als / wollte er die sonne aus ihrer / laufbahn fausten« (»ode an kahn«).

Aber die Oden gelten nicht nur dem Kahn, sondern greifen typologisch wie die mittelalterlichen Mysterienspiele zahlreiche komplexe Figuren des globalen Wettkampfs auf – wie zum Beispiel den tragischen Opfern der Geschichte (z. B. Julius Hirsch), dem Migranten auf der Suche nach einer Bestimmung (Burak Karan), des vielbewunderten Stehaufmännchens (Jorge Valdano) oder dem Individuum, das gegen ein Regime kämpft (Zahir Belounis) – und viele mehr.

Ich möchte Ostermaiers Gedichtband in drei Gängen lesen und dabei 1) den Bolzplatz als hermeneutisches Feld und Ars poetica; 2) den Fußball als Theatrum mundi; und 3) das Spiel als romantische bzw. kritische Relation betrachten.

Das hermeneutische Feld als Spielfeld

Im ersten Gedicht »die philosophie der 1 oder: sechste ode an kahn« heißt es: »der stachel der speer die / spitze im ziel die eins ist / der entscheidende punkt« Vielleicht nennt man diesen Stil irgendwo in den Lehrbüchern Reihungsstil. Jedenfalls fließen hier semantische Einheiten zusammen bzw. werden auseinandergerissen. Ostermaier lotet den Fußball mit dem Sensorium der Poesie aus. »stachel« und »speer« sind hier das Alpha und Omega oder die unterschiedlichen Seiten einer Medaille, die im Kampf um das Tor zum Wetteinsatz gehört; mit dem Wort »eins« ist eine Qualität angegeben, nämlich die Beste. Gleichsam ist der Adressat dieser Ode »der entscheidende Punkt« im Spiel; der Tormann ist Teil der Entscheidungsmächtigkeit des Spiels, und er ist dort, wo das Zusammenspiel auf den Prüfstand, auf den Punkt kommt, wo es sich entscheidet.

Die Poesie schreitet über ein Spielfeld, das aus Sprachmaterial besteht, und gibt den darauf agierenden Figuren eine andere Bewegung. Der Fußball samt seiner Spieler und Fans sind plötzlich aufgespart im universalisierenden Gestus des Mythos. Nicht mehr steht der Tormann zwischen den Pfosten, vielmehr scheint er nun wie ein Hüter des Grals, ein Widersacher, der menschgewordenen Willen. Bastian Schweinsteiger wird durch eine Ode zu Ganymed und Thomas Müller zu Prometheus: »du bergsohn / […] / den bogen das bein in goldenen / winkel fährt es hinab wie ein / blitz auf das rund die erde / bebt die brust brennt das herz / das noch immer läuft und / läuft über den pass / der parnass die pupillen« (»ganymeds game oder: ode an bastian schweinsteiger«).

Gerade bei der Ode an Bastian Schweinsteiger wird deutlich, wogegen wir vielleicht als Leser von Gedichten rebellieren werden, als Kinder der Geisteswissenschaften: nämlich die unverblümte Hommage an die Lebenden, die Verehrung der realen Person als Teil des Spiels mit seinen fiktiven Regeln, die Überhöhung des Fußballers: »unfassbar gefesselt / lässt er die götter in / ihrer abwehr zurück / eingemauert in seine / laufwege wird er sich / selbst zum labyrinth / ohne den faden zu / verlieren« (»play prometheus oder: ode an thomas müller«). Eigentlich hat der Fußball mehr mit Dichtung zu tun als alles andere. Als Torwart der Autorennationalmannschaft beim DFB weiß Albert Ostermaier, wovon er spricht. Aber ist das nicht irgendwie peinlich, die Apotheose eines Mikrofasertrikotträgers?

Nun, nochmal, anderswo: »man muss sich camus als einen / glücklichen torwart vorstellen«. Ein Gedicht über Versagen und Niederlage ist »der stein des anstosses«, darin geht es um den im Spiel befindlichen Torwart, der gerade nicht gehalten hat und weitermachen muss: »sich nicht lang zu / quälen und die kugel aus dem netz / zu holen«. Ist das Moralismus? Die bestechende Plausibilität dieser robusten Axiome wirkt in der Poesie der Moderne archaisch. Sie stammen aus einer Welt, die sich in unerschütterlichen Klarheiten performt und nicht lang nachdenkt. Sie sind überzeugend, weil sie Souveränität, Selbstbeherrschung und Triumph transportieren. Aber: Wir lesen in den gebildeten Kreise solche Dinge ungern, weil sie frei von Zweifel zu sein scheinen, kein Unbehagen verspüren lassen, ohne Skrupel sind – daher stehen diese klaren Bilder Albert Ostermaiers so quer zur Ambivalenz und Ambiguität, durch die wir sonst unsere literarischen Wirkungen zu erzeugen pflegen. Die Ars poetica dieser Gedichte operiert mit der Verbindung von Klarheit und deren Gegenteil. Es ist auch bezeichnend, dass der unmissverständliche, auch etwas eindimensionale Wertekanon der Oden kontrastiert wird mit einer Reihe von äußerst polemischen und kritischen Gedichten am Ende des Bandes (siehe weiter unten).

Doch dann ist da später das Gedicht »papillon oder: dritte ode an kahn«: »du lagst am boden / hast mit dir gerungen nichts / hat dich bezwungen nichts / wird dich bezwingen […]«. Um diese Situation noch abzurunden, wechselt der Text vom agonalen zum reüssierenden Gestus: »durch deinen / willen sprengst du ketten als / alle aufhörten auf dich zu wetten«. Schon wieder solche männlichen Allmachtsphantasien denkt die Bibliothekarin, da sie an dieser Stelle aufschaut und von ihrer Ich-bremse-auch-für-Männer-Kaffeetasse trinkt. Diese Ode ist jedoch ausgezeichnet, nicht nur weil sie die Vitalität besitzt einen lebendigen Menschen als Titanen zu feiern bzw. anzurufen, sondern weil sie die energetische Gewalt der Selbstbeherrschung aufgreift, reflektiert und Bildern zuführt, die schlüssig sind auf der populären Ebene, wo dieser Sport menschenverbindend sein kann.

Ostermaier hat verstanden, dass man einen populären Sport nicht mit hermetischen Versen zieren kann, sondern die durchaus machoartige Sprache, die dort dominiert, poetisch verarbeiten muss.

Fußball als Theatrum mundi
Sind die Spieler, die sich auf dem Spielfeld bewegen, nicht theatralische Figuren, auf die sich eine kollektive Fangemeinschaft bezieht und durch diesen ihren Bezug den Sinn des Spiels erlebt?

In seiner Ode an den Franzosen Franck Ribéry zeigt uns der Dichter etwas, was den Typus des Torjägers und Kämpfers prägt: »sein gesicht als narbe / die wunde bleibt wie die nähte / im leder aufgeplatzt vom / beton der cité dem platz ohne / rasen die straße sein laufweg / er sich durch jeden morgen / um fünf die steine aus dem / weg«. Man könnte diese Ode an Ribéry auch betiteln »Die Geburt des Feldspielers aus dem Geiste der Unterdrückung und des Widerstands«. Ist es nicht diese antike Vorstellung des Helden aus der Obskurität, aus dem Nichts, die sich hier zäh hält und kombiniert wird mit dem emanzipatorischen Impuls der Befreiung aus Unterjochung, den Willen sich nach oben zu arbeiten? Der Fußballer als Held wurzelt in einer betonierten Unterwelt, die nur jene freigibt, die kämpfen.

Und wer sich durch Härte, Konsequenz und Ausdauer befreit, der lebt »das märchen das ihn zum könig / machte unter dem stern / des südens der sonne«. Fußball spielt auf der Klaviatur kollektiver Sehnsucht.

Jorge Valdano. Real Madrid in den 1970ern. Die geheime Formel dieser Gedichte wird deutlich; sie besteht in der inszenierten Nostalgie, die zur Ausstellung gebrachten, Firnis und Patina überzogenen Bildnisse der Erinnerung. Ein Rückgriff in die Fußballchroniken »luftball ode an jorge valdano«. Es handelt sich um eine Hommage an den 1955 geborenen argentinischen Fußballer Jorge Valdano, der zuletzt Mittelstürmer bei Real Madrid war: »das niedergetretene gras / richtet sich wieder auf du / ziehst die schuhe aus gehst / barfuss durch das frisch / gemähte grün wie das riecht / […] ein kind der erinnerung«. Nachdem wir kaum noch unterscheiden können, ob das Gedicht von der Anrufung des Fußballers ausgeht oder eine Kindheitserinnerung hervorholt, die aufgespart ist in der lyrischen Stimme selbst, konvergieren Spielerleben und biographisches Subjekt des Gedichts: »vor deinem fenster glüht das / gras noch immer von deinen / schritten und die nachtigallen / singen deinen namen wenn / du einschläfst und das glück«.

So sehr die Oden häufig die Anrufung von konkreten Fußballern vollziehen, geht mit ihnen einher die Aufrufung der Erinnerung – private wie kollektive, so beispielsweise in dem Gedicht »laufwege oder: ode an julius hirsch«. Der jüdische Fußballer Julius Hirsch wurde deportiert und starb vermutlich 1943 in Auschwitz. So ist Fußball Teil der Menschheitsgeschichte mit all ihren Irrungen und Wirrungen. Das Massenphänomen Fußball wird zum Ort, an dem sich die tragischen Typologien und Brüche in der deutschen Geschichte zeigen. Ostermaier inszeniert hier das Verbrechen der Ausgrenzung und Vernichtung, indem er das Tor zum finalen Moment der Ausgrenzung und der Verwerfung der Hoffnung macht: »steht vor einem / tor nach dem es keine hoffnung / gibt und keinen weg zurück / ins spiel«.

Gefolgt wird das Gedicht zu Julius Hirsch bezeichnenderweise von einem Gedicht, das auf Ereignisse im Oktober 2013 (also 70 Jahre nach Hirsch) rekurriert. Es handelt sich um ein Gedicht zu Burak Karan, dem 1987 in Wuppertal geborenen Nachwuchsfußballer. Burak Karan war 2013 in Kämpfe im syrischen Bürgerkrieg verwickelt und kam dort ums Leben. Er ist ein Beispiel von zahlreichen Migranten auf der Suche nach einer Aufgabe, auch nach einer Identität. Burak Karan gehört zu einer Generation von jungen Männern mit Migrationshintergrund, die quer stehen zur bundesrepublikanischen Leitkultur. Sie suchen nach Bestimmung und Bedeutung. In der Gestalt des Fußballers kann Albert Ostermaier diesem Typus nicht nur Prominenz, sondern auch Deutung geben. Julius Hirsch und Burak Karan sind eindrückliche Beispiele von Andersheit inmitten einer Gesellschaft, die eine Fiktion von Homogenität vor sich her trägt.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Ode zu Zahir Belounis, der als Einzelperson gegen die Bürokratie eines Regimes kämpft, da es in Katar kein Visa gab, mit dem er zurück nach Frankreich reisen hätte können: »ihr leben dafür geben sie sterben / wie die fliegen unsere fliegen / leben keinen tag lang wir / reissen ihnen die flügel aus / und sagen du bist frei in der luft / nur am boden gehörst du uns / versprachst du nicht tödliche / pässe wir haben sie eingezogen«.

Die Oden arbeiten virtuos mit typologischen Figuren und Situationen, sodass das hermeneutische Spielfeld des Fußballs zu einer Lesart der Wirklichkeit wird, die voller Kämpfe, Selbstbehauptungen, Niederlagen, aber auch Siege ist. Daher ist dieses monothematische Buch keineswegs eine einfache Zusammenstellung von Texten, die mit Fußball zu tun haben, sondern ein Abbild dieses Kosmos selbst und somit auch ein Spiegel der Wirklichkeit.

Spiel als romantische bzw. kritische Relation

Oben war deutlich geworden, dass die Oden häufig ein starkes Pathos in ihrer Hommage entwickeln. Es ist aber, glaube ich, fair zu sagen, dass Ostermaier zu den Präromantikern gehört. Seine Helden sind insofern Helden, da der Kreis ihrer Handlungen universales Gut ist unter Fans, die den Sport verfolgen. Es ist nicht das Ach-weh Pathos von Keats oder Eichendorff.

Aufgrund der Konfrontation des unzweideutigen Wertekanons des agonalen Fußballs mit der kritischen Vernunft der Moderne, entwickelt der Gedichtband eine Sprengkraft, die die Vereinnahmungen des Spiels von fremden Regeln thematisiert. Ein Beispiel hierfür ist »der doppelte django oder: ronaldocadabra«: Ist Ronaldo ein doppelter Sklave? Sklave des Erfolgs und der Marke, als die er sich selbst vermarktet: »zwei marken die wie hunde / ihr tor markieren«. Ronaldo als der Statist mit High-Performance-Hebel, der aber vom ökonomischen Sog des Spiels so erfasst worden ist, dass er als Objekt der Bewunderung ausscheidet: »gel im haar tötet er / breitbeinig jede illusion und / selbst der torminator klatscht«. Ronaldo wird im Verlauf des Gedichts zur Operettenfigur, ein kleiner aufgescheuchter Koloratursopran, dem die raschen Läufe in oberen Tonlagen ausnahmsweise gelingen. Es gibt also einen Unterschied zwischen Persönlichkeit und Marke: »blickt er der / medienmedusa ins glatt / rasierte gesicht und starrt / ins nichts«.

Die Ökonomisierung des Spiels als Fremdbestimmung des Spiels greifen die Texte im letzten Viertel des Gedichtbandes auf, das von dem aus sieben Szenen bestehenden Zyklus »Soccer Songs« gebildet wird. In diesen Songs greift eine von den übrigen Texten abweichende Poetik, die stärker in die Tradition der Spätmoderne hineinpasst und auch gegen die dystopischen und verzerrenden Einflüsse kritisch polemisiert wie etwa in »scene 3 / commercials / spieleberater«: »jeder der sich hier seine füsse platt / läuft nur für einen rennt seinen / agent in dessen tasche landet jeder / cent nicht mal die schrauben in / den knien gehören ihnen«. Vom Faszinosum und dem Kult der Fans wechselt nun der Duktus über zu einem verstörenden Bild des kommerzialisierten Sports wie in »scene 5 song of depression and physical pain questioning fate«: »der schmerz im bein kommt immer wieder / hier vom fuss bis ins herz hinauf zieht er / nimms nicht so schwer du bist ein kämpfer«. Die fast ironische, aber durch die Ironie abgründig gewordene Metapher des Kämpfers ist hier entlarvt in all ihrer zynischen Vernunft. Erdulde alles, denn du bist ein Kämpfer; erdulde auch deine Ausbeutung.

So sind mit dem etwas düsteren Abschluss die Gedichte zum Fußball von Albert Ostermaier keineswegs naive Hommagen an die Titanen eines Breitensports, sondern der Dichter schafft die Atmosphäre und Stimmung der Oden, um kontrastierend fast in Brecht’scher Manier eine Sozialkritik des Kapitalismus in voller Wucht vorzubringen. Zusammen mit den Bildern von Florian Süssmayr, die im Band reproduziert worden sind, von denen man sich noch mehr Detailabbildungen gewünscht hätte, ermöglicht der Band Flügelwechsel eine wunderbare Meditation über einen Sport, der doch so zentral geworden ist für die europäische Kultur. Besonders bemerkenswert ist dabei das Panorama an Motiven, die er dem Leser anbietet, aber auch den Willen weder in der Hommage noch im bildungsbürgerlichen Highbrow einseitig zu sein.

»Flügelwechsel« von Albert OstermaierFlügelwechsel
Albert Ostermaier
deutsch
Insel Verlag, Berlin 2014
112 S.
€ 13,95 (Gebunden)

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Diese Rezensionen werden Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Gedichtbände: »duktus operandi« (2010), »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Er ist ebenfalls Übersetzer und Mitherausgeber der internationalen Ausgabe der Lyrikzeitschrift DAS GEDICHT (»DAS GEDICHT chapbook. German Poetry Now«). Soeben erschienen ist »Am Ende der Zeilen. Gedichte | At the End of Days. Gedicht:Poetry«.

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