Humor in der Lyrik – Folge 27: Erich Mühsam (1878–1934): »Sich fügen heißt lügen!«

Die Behauptung ›Lyriker haben keinen Humor‹ gehört zu den unausrottbaren Missverständnissen. Doch gerade in dieser literarischen Gattung blüht Humor in allen Facetten. Alfons Schweiggert stellt an jedem 25. des Monats lyrischen Humor und humorvolle Lyriker in seiner Rubrik »Humor in der Lyrik« vor. Als Kolumnist von DAS GEDICHT blog will er damit Anregungen geben, Humor in der Lyrik zu entdecken und humorvolle Vertreter dieser Gattung (wieder) zu lesen.

Vor 82 Jahren, am 10. Juli 1934, wurde er totgeschlagen, der Dichter Erich Mühsam. Er habe Selbstmord begangen, behaupteten die SS-Schergen, die seine Leiche im KZ Oranienburg aufhängten. Sie hassten ihn, weil er ein Jude und Anarchist war, sie hassten ihn, weil er 1919 zu den Anführern der Münchner Räterepublik gehört hatte, sie hassten ihn, weil er sich nicht abfinden mochte mit der Barbarei der Nazis, die ihn einen Tag nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 in seiner Wohnung in Berlin-Britz verhafteten. Fast wäre es ihm noch rechtzeitig gelungen ins Exil nach Prag zu flüchten. Doch stattdessen folgte für ihn ein 16-monatiger Leidensweg durch zwei Gefängnisse und drei Konzentrationslager. Schon nach einem Monat war er nicht mehr zu erkennen, so übel hatte man ihn zugerichtet, die Brille zerbrochen, seine Zähne ausgeschlagen.

1878 in Berlin geboren und in Lübeck aufgewachsen, stammte Erich Mühsam aus einer wohlhabenden jüdischen Familie. Sein Hass auf die bürgerliche Gesellschaft entstand wohl aus dem Hass auf seinen Vater Siegfried Mühsam, einen Lübecker Apothekenbesitzer, der es seinem Sohn nie verzeihen konnte, dass der Künstler werden wollte anstatt in seine Fußstapfen zu treten. »Alles, was an natürlicher Regung in mir war, sollte herausgeprügelt werden«, erinnerte sich der Sohn später. Wegen »sozialdemokratischer Umtriebe« und dem Aufbegehren gegen Autoritäten flog Mühsam als 17jähriger vom Gymnasium. »Ich war Anarchist, bevor ich wusste, was Anarchismus ist«, äußerte er dazu. Was er von Erziehung hielt, verdeutlichte er in dem folgenden bissigen Gedicht.
 

Erziehung

Der Vater zu dem Sohne spricht:
Zum Herz- und Seelengleichgewicht,
zur inneren Zufriedenheit
und äußeren Behaglichkeit
und zur geregelten Verdauung
bedarf es einer Weltanschauung.
Mein Sohn, du bist nun alt genug.
Das Leben macht den Menschen klug,
die Klugheit macht den Menschen reich,
der Reichtum macht uns Herrschern gleich,
und herrschen juckt uns in den Knöcheln
vom Kindesbein bis zum Verröcheln.
Und sprichst du: Vater, es ist schwer.
Wo nehm ich Geld und Reichtum her?
So merk: Sei deines Nächsten Gast!
Pump von ihm, was du nötig hast.
Sei’s selbst sein letzter Kerzenstumpen –
besinn dich nicht, auch den zu pumpen.
Vom Pumpen lebt die ganze Welt.
Glück ist und Ruhm auf Pump gestellt.
Der Reiche pumpt den Armen aus,
vom Armen pumpt auch noch die Laus,
und drängst du dich nicht früh zur Krippe,
das Fell zieht man dir vom Gerippe.
Drum pump, mein Sohn, und pumpe dreist!
Pump anderer Ehr, pump anderer Geist.
Was andere schufen, nenne dein!
Was andere haben, steck dir ein!
Greif zu, greif zu! Gott wird’s dir lohnen.
Hoch wirst du ob der Menschheit thronen!
 

Mit 22 Jahren hängte Erich Mühsam den Beruf des Apothekers an den Nagel und wandte sich der Schriftstellerei und dem Leben eines Kabarettisten zu. In Berlin stieß er auf die Autoren- und Künstlervereinigung »Neue Gemeinschaft«, trieb sich im »Café Größenwahn« herum, wo er Kontakte zu den Dichtern Peter Hille und Paul Scheerbart knüpfte und wo er mit dem Anarchisten Gustav Landauer in Berührung kam.
 

Bauchweh

Die Därme wälzen sich im Kampfe;
es zuckt der Leib im Magenkrampfe:
die Welt ist schlecht, – die Welt ist schlecht.
Daß die der Herr im Zorn zerstampfe!
Daß sie verpuffe und verdampfe! –
So wär’ es recht! – So wär’ es recht!

Angst ist das Leben und Beschwerde;
der Mensch, er sitzt am Schmerzensherde
im Weltenbauch, – im Weltenbauch.
In qualzerrissener Gebärde
krümmt sich der Bauch der Welt, der Erde, –
und meiner auch. – Und meiner auch.
 

1909 zog es Mühsam nach München. Er verkehrte in Schwabing in den legendären Lokalen, so im Café Stefanie, in der Torggelstube, dem Simpl oder dem Café Luitpold. »Eine wilde Wirrnis von widerbortigem graurotem Haupt- und Barthaar über einem sehr ungebügelten Konfektionsanzug, die todernst Schüttelreime vortrug«, so beschrieb ihn Victor Mann. Bald war er eine der Zentralfiguren der Schwabinger Bohème und befreundete sich mit Heinrich Mann, Frank Wedekind, Lion Feuchtwanger, Fanny zu Reventlow und anderen. In dieser Zeit verfasste er einige Bänkellieder sowie ernste Gedichte und kleine Theaterstücke.

Zu zahlreichen Cafébekanntschaften, Ehefrauen, Schauspielerinnen und Zimmermädchen entwickelten sich zu dieser Zeit rasch wechselnde Liebesbeziehungen.
 

Es stand ein Mann am Siegestor,
Es stand ein Mann am Siegestor,
der an ein Weib sein Herz verlor.
Schaut sich nach ihr die Augen aus,
in Händen einen Blumenstrauß.
Zwar ist dies nichts Besunderes.
Ich aber – ich bewunder es.
 

Erich Mühsam. um 1920
Erich Mühsam. um 1920
Dauerhaft kann Mühsam keine Frau an sich binden. Erst als ihm die Zenzl – Kreszentia Elfinger – begegnet, kommt es im September 1915 zur Heirat. Etliche seiner berühmten Schüttelreime befassen sich auch mit der Liebe und deren Erscheinungen:
 

Die Männer, welche Wert auf Weiber legen,
tun dieses leider meist der Leiber wegen.

An der Liebe Niederlagen
läßt der Dichter Lieder nagen.

 

1915 stirbt der von ihm verachtete Vater, der ihm die Kindheit und Jugend vergällt hatte und dessen Wunschvorstellungen er so gar nicht entsprochen hatte. Am 1. Weltkrieg musste Mühsam nicht teilnehmen. Er wurde ausgemustert: »Keine Engelsmusik hätte mir lieblicher in die Ohren tönen können«, gestand er erleichtert. Angetrieben von seinem Hass auf Militär und Krieg verfasste er antimilitaristische Gedichte, so das »Kriegslied«, dessen erste und letzte Strophe lautet:
 

Sengen, brennen, schießen, stechen,
Schädel spalten, Rippen brechen,
spionieren, requirieren,
patrouillieren, exerzieren,
fluchen, bluten, hungern, frieren …
So lebt der edle Kriegerstand,
die Flinte in der linken Hand,
das Messer in der rechten Hand –
mit Gott, mit Gott, mit Gott,
mit Gott für König und Vaterland.

[…]

Angeschossen – hochgeschmissen –
Bauch und Därme aufgerissen.
Rote Häuser – blauer Äther –
Teufel! Alle heiligen Väter! …
Mutter! Mutter!! Sanitäter!!!
So stirbt der edle Kriegerstand,
in Stiefel, Maul und Ohren Sand
und auf das Grab drei Schippen Sand –
mit Gott, mit Gott, mit Gott,
mit Gott für König und Vaterland.
 

Als bekennender Anarchist gründete Mühsam die anarchistischen Gruppen »Die Tat« und »Anarchist« und setzte sich für linke und pazifistische Bündnisse ein. Sein Lebensmotto war: »Sich fügen heißt lügen!« Als einer der maßgeblichen Unterstützer der Münchner Räterepublik, die im April 1919 ausgerufen wurde, sperrte man ihn als »Hochverräter« nach deren Ende ins bayrische Zuchthaus Ebrach. Glücklicherweise wurde er »nur« zu 15 Jahren Festungshafthaft verurteilt und nicht ermordet wie etwa Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und seine Münchner Gefährten Gustav Landauer, Rudolf Egelhofer und Eugen Leviné. Nach fünfeinhalb Jahren kam er 1924 wieder frei.

Die letzten sieben Jahre seines Lebens hielt sich Mühsam von 1927 bis 1933 in Berlin-Britz auf, wo er zu einem der eindringlichsten Warner vor der drohenden Diktatur wurde, was ihm schließlich den Tod im KZ Oranienburg eintrug.

Erich Mühsam, der für einen »literarischen Anarchismus« stand, betätigte sich als Herausgeber der Zeitschriften »Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit« und »Fanal« und als Verfasser von Satiren für die Zeitschriften »Simplicissimus« und »Ulk« und schrieb selbst etliche satirische Gedichte dafür, darunter etwa:
 

Der Gesang der Vegetarier
Ein alkoholfreies Trinklied
(Melodie »Immer langsam voran«)

Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse von früh bis spat.
Auch Früchte gehören zu unsrer Diät.
Was sonst noch wächst, wird alles verschmäht.
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse von früh bis spat.

Wir sonnen den Leib, ja wir sonnen den Leib,
Das ist unser einziger Zeitvertreib.
Doch manchmal paddeln wir auch im Teich,
Das kräftigt den Körper und wäscht ihn zugleich
Wir sonnen den Leib und wir baden den Leib,
Das ist unser einziger Zeitvertreib.

Wir hassen das Fleisch, ja wir hassen das Fleisch
und die Milch und die Eier und lieben keusch.
Die Leichenfresser sind dumm und roh,
Das Schweinevieh – das ist ebenso.
Wir hassen das Fleisch, ja wir hassen das Fleisch
und die Milch und die Eier und lieben keusch.

Wir trinken keinen Sprit, nein wir trinken keinen Sprit,
Denn der wirkt verderblich auf das Gemüt.
Gemüse und Früchte sind flüssig genug,
Drum trinken wir nichts und sind doch sehr klug.
Wir trinken keinen Sprit, nein wir trinken keinen Sprit,
Denn der wirkt verderblich auf das Gemüt.

Wir rauchen nicht Taback, nein wir rauchen nicht Taback,
Das tut nur das scheussliche Sündenpack.
Wir setzen uns lieber auf das Gesäss
Und leben gesund und naturgemäss.
Wir rauchen nicht Taback, nein wir rauchen nicht Taback,
Das tut nur das scheussliche Sündenpack.

Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse von früh bis spat.
Und schimpft ihr den Vegetarier einen Tropf,
So schmeissen wir euch eine Walnuss an den Kopf.
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse von früh bis spat.
 

Mühsam veröffentlichte in seinem Leben auch knapp zwei Dutzend eigene Bücher, darunter Dramen, anarchistische Pamphlete sowie Gedicht-, Chanson- und Liedsammlungen, in denen er ungeniert bürgerliche Normen und staatliche Zwänge geißelte. »Jeder Satz soll ein Ringen sein nach Befreiung«, so sein Anspruch. Eines seiner bekanntesten Spottgedichte widmete er »der deutschen Sozialdemokratie«:
 

Der Revoluzzer

War einmal ein Revoluzzer,
im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.

Und er schrie: »Ich revolüzze!«
Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke Ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.

Doch die Revoluzzer schritten
mitten in der Straßen Mitten,
wo er sonsten unverdrutzt
alle Gaslaternen putzt.

Sie vom Boden zu entfernen,
rupfte man die Gaslaternen
aus dem Straßenpflaster aus,
zwecks des Barrikadenbaus.

Aber unser Revoluzzer
schrie: »Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!

Wenn wir ihn’ das Licht ausdrehen,
kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Laßt die Lampen stehn, ich bitt! –
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!«

Doch die Revoluzzer lachten,
und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich
fort und weinte bitterlich.

Dann ist er zu Haus geblieben
und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.
 

Auch Europa widmete Erich Mühsam schon früh ein boshaftes Gedicht, so als hätte er dessen Entwicklung bereits vorausgeahnt:
 

Entlarvung

Europa hat sich abgeschminkt.
Befreit von Rouge und Puder
steht eklig da das Luder
und faucht und stinkt.

Den Schnürleib sittlicher Kultur
warf sie zum Kunstkorsette.
Statt Rippen Bajonette
hält feil die Hur.

Europa, mach das Hemde zu!
Der Anblick deiner Nacktheit
ist Gift und Abgeschmacktheit.
Krepiere, Du!
 

Es lohnt sich, Erich Mühsam wieder mehr zu lesen, diesen ironischen Bohemien und zupackenden Satiriker. Er war Außenseiter im Kaiser-Reich, Rebell in der Weimarer Zeit, Warner vor dem Dritten Reich und mit galligem Humor gesegneter Anarchist, der manchem Bürger auch noch heute nicht so ganz geheuer zu sein scheint.

 

Alfons Schweiggert. Foto: Gerd Pfeiffer, München
Alfons Schweiggert. Foto: Gerd Pfeiffer, München

»Humor in der Lyrik« wird Ihnen von Alfons Schweiggert präsentiert. Der Münchner Schriftsteller veröffentlichte neben Erzählungen und seinem Roman »Das Buch« mehrere Lyrikbände, Biographien und Sachbücher sowie Kinder- und Jugendbücher. Nach mehrjähriger Lehrtätigkeit als Institutsrektor am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in München ist er seit 2010 freischaffender Autor. Schweiggert ist Präsidiumsmitglied der Schriftstellervereinigung Turmschreiber und Vorstand der »Karl Valentin-Gesellschaft«.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Humor in der Lyrik« finden Sie hier.

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