Im babylonischen Süden der Lyrik – Folge 12: »LASSE, Grattis på din födelsedagen ›VID FLODEN PARANÁ‹ – 85 Geburtstagsworte für Lasse Söderberg«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Anfang September, am 4., wird der 1931 in Stockholm geborene Dichter und Übersetzer Lasse Söderberg seinen 85. Geburtstag feiern, wahrscheinlich in der südschwedischen Hafenstadt Malmö, wo er seit Jahrzehnten lebt und schreibt. Aber dort eigentlich nicht unbedingt, denn er reist gerne und sehr viel, wann immer es möglich ist. Wir waren mit ihm gemeinsam in Babylon, Bagdad, Belgrad, Berlin, Brankovina, Bremen, Buenos Aires, Istanbul, Lund, Malmö, Medellín, Rosario, Smederevo, Stockholm, Stuttgart, Ystad und Zürich, wenn ich mich ungefähr entsinne. Ja, wir kennen uns schon seit einer gefühlten Ewigkeit.
 

Lasse Söderberg

Am Paraná-Fluss

Heute entfernte ich mich von den Menschen,
und allein, an diesem Ufer,
betrachtete ich den Fluss.

Rafael Alberti

Für Jona und Tobias

Regen ist ein nacktes Mädchen,
das springt über den Fluss
mit einem Spiegel in der Hand.

Es hat keine Hüften,
aber es zeigt sich ohne Scham,
wohin der Blick reicht.

Es hat keine Brüste,
aber es gibt ihre grüne Kindlichkeit
zu trinken.

Es hat kein Gesicht
und hält nie inne,
aber es spiegelt sich auf dem Fluss.

Der Fluss: ein fliehendes Pferd
mit der kichernden Reiterin
auf dem Rücken.

 
*
 

Wenn der Fluss schneller strömt,
wird alles andere langsam und hält an,
und wer allein am Ufer
sitzt, der weiß:

jetzt ist der richtige Augenblick,
um die Zeitlichkeit zu vernehmen,
die sich reglos regt,
tief und fließend zugleich.

Hier befindet man sich nun.
Hier und nun und dann.
Nichts wird geboren oder stirbt.
Das Rauschen, das er hört, ist das Vergessen.

 
*
 

Wäre ich erschöpft,
großer Fluss, vom Leben,
ginge ich auf deinen Inseln,

deine langen grünen Inseln,
wo die Winde reiten
und mich wieder neu leben ließen.

Ich läge in der Wiege
der grünen Farben
und ließe mich durch die wilden Weinstöcke tragen

und im Rausch des Schlangengiftes
träumte ich von blutroten Wurzeln
im überschwemmten Wasser-Dickicht

und danach, großes Fluss,
auf den Namen Wiederkehr umgetauft,
kehrte ich zum Leben zurück.

 
*
 

Von einem Balkon in Rosario

Die Inseln in der Flussmitte
scheinen gegen den Strom zu schwimmen.

Aber die Inseln bleiben ruhig,
sie sind weder dafür noch dagegen.

So hat es die Natur bestimmt.
Dennoch sagen wir, der Kampf geht weiter.

Der Fluss ist grau wie eine Rüstung
und tief wie die räuberische Gier.

(Januar 2005)
 

Ins Deutsche übersetzt von Juana und Tobias Burghardt
 

Gegen die imaginative Unterentwicklung der nördlichen Breitengrade Europas lehnt er sich bis heute amüsiert auf und weiß nur zu gut, wovon er spricht, wenn er rückblickend sagt: »Spanien war für mich als Person und Schriftsteller entscheidend«. Im mallorquinischen Fischerdorf Andratx schrieb er in den frühen fünfziger Jahren seine ersten beiden Gedichtbände und entdeckte begeistert die neue spanische Poesie. Sein Debüt hieß »Akrobaterna« (Die Akrobaten) und erschien 1955 als poetischer Protest gegen den kulturellen Provinzialismus und das allenthalben stickige Klima des Kalten Krieges in seinem Land. Den spanischen Lyrikern León Felipe und Rafael Alberti widmete er Gedichte, inspirierte sich bei Federico García Lorca oder Luis Cernuda und machte mit seinen Übertragungen die spanische »Generation von 27« in Schweden bekannt. Im Stil des mediterranen Malers Joan Miró tupfte er eine poetische »Kleine Landschaft Kataloniens«, in der er ironisch feststellt: »Die Katzen sind Anarchisten«. Von 1955 bis 1958 schrieb er für die schwedische Literaturzeitschrift »Upptakt« und wanderte freudig aus. Längere Lebensabschnitte in den internationalen Literaturmetropolen Paris – von 1958 bis 1965 – und Madrid spiegeln sich in seiner interkulturellen Poesie wieder, die mit französischer Wortpräzision sowie hispanischer Bildhaftigkeit und Gedankenschärfe verschwistert ist.

In Paris lernte er damals u.a. Alejandra Pizarnik (1936-1972) kennen; »Alejandra interessierte sich wohl eher für meine damalige Frau, als sie bei uns Zuhause vorbeischaute«. Später wurde ihm klar, welche wichtige Figur der modernen lateinamerikanischen Literaturgeschichte da zu Besuch war, und las schließlich mit übersetzerischem Auge ihre Gedichte. Ein echter Freund für’s Leben wurde hingegen Yves Bonnefoy (1923-2016), der vor wenigen Wochen starb. Inzwischen gehört die Mehrzahl seiner langjährigen Freundschaften zu den Abwesenden, wozu auch Tomas Tranströmer (1931-2015) gehört, mit dem er seit seiner frühen Jugend in Stockholm eng befreundet war, oder Juan Gelman (1930-2014), den er nach Schweden zu Lesungen, Gesprächen und Spaziergängen eingeladen hatte.

In Schweden genießt Lasse Söderberg den glänzenden Ruf eines leidenschaftlichen Entdeckers und Kulturvermittlers Spaniens und Lateinamerikas. So hat er beispielsweise Jorge Luis Borges, Octavio Paz sowie kubanische und katalanische Lyrik ins Schwedische übertragen. 1967 und 1968 weilte er monatelang in Kuba, brachte die Manuskripte für zwei Lyrikanthologien gleich mit und schrieb über die dortigen Beobachtungen und Erfahrungen seinen siebten Gedichtband »Ros för en revolution« (Eine Rose für eine Revolution. Die Farbe von Kuba, 1972). Er war Herausgeber der Poesiezeitschrift »Tärningskastet« (Würfelwurf) und leitete von 1987 bis 2006 das erlesene Internationale Poesiefestival »Internationella Poesidagarna i Malmö«.

Lasse Söderberg veröffentlichte mehr als fünfundzwanzig Lyrikbände und wurde seinerseits in etliche Sprachen übersetzt. Die nachfolgenden Gedichte sind aus seinem 2002 erschienenen Band »Stenarna i Jerusalem« (Die Steine von Jerusalem), der 2008 in der spanischen Übersetzung des Autors und der kolumbianischen Lyrikerin Ángela García unter dem Titel »Las piedras de Jerusalén« in Kuba veröffentlicht wurde.
 

Lasse Söderberg

Der entfernteste Ort

Der entfernteste Ort
ist in Reichweite.

Nie erreichen wir ihn,
wenn wir aufbrechen, ihn zu suchen,

im Glauben, ihn schon in der Hand zu halten,
ist er kaum größer als eine Nussschale.

Sein Goldglanz macht ihn unerreichbar:
brüchiges Trugbild.

 
*
 

Der Staub reist durch die Jahrhunderte,
ohne vom Wind mitgerissen zu werden.

Er liegt auf der Erde
wie eine Hand ohne Linien

auf einer fiebrigen Stirn.
Die grünlichsten Blätter bedeckend

ist er gelb wie der Schmerz.
Der Staub: gemahlene Zeit.

 
*
 

Vor dem leeren Vorplatz
auf der Felsenanhöhe dachte ich:

bin weder Pilger noch Prophet,
und der graue Himmels Gottes

wird nie so nah sein wie jetzt.
Ich bin Zeuge des Feuersteins

und höre nur, was man verliert.
Meine einzige Aufgabe ist diese Welt.

 
*
 

Je greifbarer die Stadt wird,
umso unwirklicher scheint sie,

errichtet auf dieser elenden Welt,
dessen ungeachtet, ohne weniger elend zu sein,

Heimat des biblischen Hasses,
Trampolin der Propheten,

härtester Knoten, der nicht aufgehen will,
auch nicht auf kaiserliches Geheiß.

 
*
 

Der entfernteste Ort,
geknetet aus Zeit und Glaube,

ist immer der Ort des Anderen,
in Stein verwandelte Verheißung,

der eigene Ort,
den der Andere, bestärkt durch das Unheil,

zu seinem gemacht hat.
Israel ist eine Idee, die auf Schmach gründet.

 
*
 

(Beim Durchgang durch das Tor von Jaffa)

Erst die Wüste,
dann das Labyrinth.

Erst das WORT,
dann die Wörter.

Erst der Dorn,
dann der Stacheldraht.

Erst das weiße Blatt,
am Ende dieses Gedicht.

 
*
 

(Yad Vashem)

Das ermordete Kind schläft
in einer flackernden Flamme.

Die Flamme scheint lebendig,
aber sie ist tot.

Das ermordete Kind schläft
in einem weder toten noch lebenden Stein.

Der Stein erstickt die Flamme.
Die Flamme zerstört den Stein.

 
*
 

Die Steine von Jerusalem

Die Steine von Jerusalem
beweisen uns, dass Gott nicht existiert.

Sie schmecken nach Salz, als hätten sie geweint,
aber nur wir weinen.

Warum weinen wir?
Weil Gott nicht existiert,

oder weil die Steine uns nichts beweisen,
außer aus Stein zu sein.
 

Ins Deutsche übersetzt von Juana und Tobias Burghardt
 

Für sein poetisches Werk ehrte ihn 1998 die Schwedische Akademie mit dem renommierten Bellmann-Preis. Für seine übersetzerischen Leistungen aus mehreren Sprachen, vor allem jedoch aus dem Spanischen, wurde er 2001 mit dem Elsa-Thulin-Preis ausgezeichnet. 2014 wurde er in Västerås mit dem Tranströmer-Poesiepreis gewürdigt.

Álvaro Vargas Llosa schrieb einmal über Lasse Söderberg, er besitze einen »sporadischen Humor«, mit dem er in einer melancholischen Atmosphäre »plötzlich die Intuition oder das Bild, das im Gedicht hervorkommt, beleuchtet« und ein Schmunzeln hervorzaubert.

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie und zuletzt »Septembererde & August-Alphabet« (2010). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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