»Nad Střechami Světlo | Über den Dächern das Licht« von Klára Hůrková (Hrsg.)

rezensiert von Paul-Henri Campbell

»Nad Střechami Světlo | Über den Dächern das Licht« von Klára Hůrková (Hrsg.)Klára Hůrková (Hrsg.) »Nad Střechami Světlo | Über den Dächern das Licht«

Ach, freut man sich denn nicht in Europa, wenn einmal nicht abgehört, sondern zugehört wird; wenn strategische Eingriffe in die Sprache keine einseitigen Gesten der Überzeugung und des Überredens darstellen, sondern Dialoge, die sich in der unfassbaren Konkretheit der Poesie vollziehen? Die in Prag geborene Dichterin Klára Hůrková lebt in Aachen. Solche Biographien sind immer Glücksfälle. Sie übersetzt aus dem Tschechischen ins Deutsche und aus dem Deutschen ins Tschechische. Bereits 2007 stellte sie eine Anthologie tschechisch-deutscher Texte zusammen: »Sbírka klíčů | Schlüsselsammlung«. Sieben Jahre später nun folgt eine um das Dreifache erweiterte zweite Anthologie, die 22 deutsche und 22 tschechische Autoren miteinander ins Gespräch bringt. Das Projekt erschien unter dem Titel »Nad Střechami Světlo | Über den Dächern das Licht« (Dauphin Verlag, Prag 2014).

Die Anlage des Buches ist Programm. Auf einer Doppelseite steht jeweils ein Original immer links, dessen Übertragung rechts. Da stets ein tschechischer Autor mit einem deutschen Autor wechselt, liegen jeweils zwei Doppelseiten wie ein Chiasmus vor dem Leser (tschechisch|deutsch // deutsch|tschechisch). Wir befinden uns daher nicht einfachhin auf dem Gebiet der Paralleltextausgaben. Es interessieren hier weniger die Dichotomien des »typisch dieses« oder »typisch jenes«, die dann der engagierte Leser vergleichen möge.

Vielmehr erinnert Klára Hůrková uns an die Grundintention jeglicher Dichtung, die über den Tellerrand des (mutmaßlich) Eigenen hinausschaut: Eine doppelte Bewegung zwischen dem Eigenen, dem Fremden und deren Kreuzung. Als Übersetzerin und Herausgeberin in einer Person begründet Hůrková im Vorwort ihre Arbeit so: Die Anthologie »wurde aus meinem Wunsch geboren, mit dem kulturellen Geschehen in der Tschechischen Republik verbunden zu bleiben und gleichzeitig eine weitere poetische Brücke zwischen beiden Ländern, die meine Heimat geworden sind, zu bauen.«

Keine Dichotomien, kein Nebeneinander, keine Parallelisierungen, keine doppelte Buchführung – stattdessen: Chiasmen, Brücken zwischen unterschiedlichen Welten, Kreuzwege, Dialoge, Wechselseitigkeit, frivoles Oszillieren zwischen den beiden Varianten des Selbst, als die sich die bilinguale Herausgeberin erlebt.

Das Material ist in zehn Abteilungen untergliedert und ist aus unterschiedlichen mehr oder weniger prominenten Autoren und Autorinnen von den beiden Nachbarländern rekrutiert worden. Gleich das erste Gedicht aus der Abteilung »Zwischen uns« von Kateřina Bolechová (geb. 1966 in Budweis) ruft dazu auf, alle Winkel der Welt zu durchforsten auf der Suche nach aufregenden Texten: »Die Poesie befindet sich / in der Phase / des Turbo-Staubsaugers / Es ist nötig / zum Besen zurückzukehren / sich Splitter einzuziehen / Brotkrümel zu kehren / in den Ecken«.

Mit Levinas erinnert uns Bolechová daran, dass Dichtung immerfort ein Opfer erbringt, nämlich der verschwenderischen Tendenz der Zeit entgegen, ihrem »Turbo« sich widersetzend, ihrem raschen Gang entrinnend. Dort ringt die Poesie »Brotkrümel« ab vom verschlingenden Schlund der dahineilenden Welt. Es geht weniger darum, ob wir den Verkopften gegenüber langsamer denken oder den Überfliegern gegenüber den Tiefflug wagen. Vielmehr geht es, denke ich, Bolechová programmatisch darum, überall zu schauen, das Echo in die letzten Tiefen der Dinge hinabspulen zu lassen, uns an die »Splitter« zu erinnern, als die wir Wirklichkeit erfassen und die abgelegenen »Ecken« nicht zu vergessen, darin die lieblichsten Gewächse gedeihen.

Die Herausgeberin scheint diesem Ruf gefolgt zu sein, denn Klára Hůrková hat Texte versammelt, die ich in zwei Gängen lesen möchte. Es gibt freilich weitaus mehr Lesarten, aber meine Zeit ist leider begrenzt und das Feld ist weit. Schauen wir daher auf den Topos der Nacht und der Schwelle, dann auf die Dialogizität der Texte.

Tender is the Night

Den Beginn bereitet Norbert Hummelts »abendlicht«. Das Gedicht besteht aus sieben Zweizeilern, die wir fast als Distichen lesen könnten: »treiben im kanal .. wie du mich küsst … willst du jetzt sofort / aufs zimmer oder doch lieber zum zattere gehen, im abend- // licht die großen schiffe sehn … aber heute das abendlicht ist / anders als gestern, siehst du es nicht?«. Das Gedicht gewinnt seine Schönheit in der sanften Verwandlung in der epistemischen Konstitution der lyrischen Stimme. Setzt es noch ein als traumhafte Phantasmagorie wird es zunehmend zu einer Metamorphose der Erkenntnis des Selbst, das plötzlich innerhalb weniger Verse sich seiner Differenz, zu dem, was es einmal war oder sein wollte/konnte, bewusst wird.

Diese Stimmung, immerfort nokturnal realisiert, findet sich häufig in dieser Anthologie und gibt der Sammlung eine meditative Kolorierung. Beispielsweise ist da dieses aufgewühlte Gedicht von dem in Třinec geborenen Lyriker Vojtěch Kučera mit dem Titel »Das Kräuseln der dunklen Wasserflächen«: »Durch die Nacht / in der ich stumm auf das Tauen warte, / geht der Oktober / sein November. // Und es gibt keinen Schlaf, / nur Wachen ohne Ende / 02:25 / Zeit für Höhenangst«. Auch hier treffen wir auf eine Umkehrung: in den ersten Wintermonaten wird paradoxerweise Tauwetter erwartet. Oder das unbetitelte Gedicht von Irena Štastná aus Opava, darin nachts Positionen ausgesucht werden, um Minen zu legen »in die Vertiefungen / in die Nester / danach warte ich / lange in der Dunkelheit / welches Weibchen / sich ihrer annimmt / sich auf sie setzt / sie wärmt / und zündet«.

Aber auch Jana Witthedovás »Die Kirche Sankt Kyrill und Methodius«: »Im Dämmerlicht der Kirche / bedeckt / ein Gerüst die Wände // gestreckte Arme / füllen den Raum / ungeahnt vom Fluss // weg ist die Bronze des Portals / die Zärtlichkeit der Pinselstriche / haucht / den schmalen Engeln / die verlorenen Farben zu«. Ich führe hier nur einige Beispiele an. Es sind viele mehr. Was sie andeuten, ist eine transitive Stimmung. Besonders Witthedovás Text, das die byzantinischen Missionare der Slawen in eine Atmosphäre des Unfertigen rückt, ein Unfertiges, das sowohl nostalgisch als auch futurisch zu sein scheint. Es ist im Deckmantel der Nacht dann nicht so sehr ein großer Kontrast zu dem völlig anderen Gedicht von Vojtěch Kučera, das den Schauder der Wasserflächen inszeniert, als das ungewisse »Wachen ohne Ende«. Zahlreiche Texte spielen mit der Verschiebung des Gestrigen und dem Künftigen, das sich in einem gegenwärtigen Moment offenbart. Irgendwo heißt es in einem Gedicht von Vít Janota: »Und der Mensch / ist scheinbar angekommen / bei seinem Bild / auf einer riesigen glänzenden Fläche«.

Es ist dann vielleicht kein Zufall, dass gleich zwei Abteilungen der Anthologie das Thema der Schwelle oder das Auf-der-Schwelle-sein entwickeln. Doch immer wieder behauptet das lyrische Bewusstsein etwas, wofür es nur als sich selbst einstehen kann, als Kontrafaktur, als an sich zweifelnde Bestimmtheit, als hellwache Nacht, in einem Zustand, in dem, wie es in einem Gedicht von Anton G. Leitner heißt: »Die eigene, kleine / Welt nimmt ab / Während du zunimmst // […] Sagt einer, der / Noch da ist / Horaz lebt doch«. Ist es nicht ungeheuerlich inmitten dieser Szenarien des Verschwindens, in diesen Umnachtungen, dann nicht den Tod der Götter zu proklamieren, sondern die Lebendigkeit des Horaz wie eine unumstößliche Wahrheit hinzustellen? Darin liegt die eigentümliche Magie des Nächtlichen, die so häufig als Ausgestaltung der Grenzsituation oder Grenzerfahrung aufgenommen wird. Vielleicht war sich Klára Hůrková diesem transitorischen Charakter des Dichtens bewusst, als sie die Gedichte zusammengestellt hat. Vielleicht hat es sich auch einfach nur so ergeben.

Zwischenzeitliche Dialoge

Einige der eindrucksvollsten Gedichte finden sich in dem zweiten Kapitel »Auf der Schwelle I«. Man begegnet hier Texten etwa von Lenka Mrázková oder Ludwig Steinherr, die das Verhältnis von Eltern zu ihren Nachkommen verhandeln und dabei das gesamte Beziehungsgeschehen zwischen den Generationen in all ihrer Abkünftigkeit und Abhängigkeit zur Sprache bringen. Es befinden sich darin beispielsweise Gedichte wie das von Jarmila Hannah Čermáková mit dem Titel »Autistin«: »Au Mutter / Au Vater / Eure Beziehung tut mir weh / eure Mimik macht mir Angst / Euer seltsamer Humor / ist Salz / in meiner Wunde«.

Čermáková zeigt, dass das Gedicht unter allen menschengemachten Kunstwerken vielleicht das gefährlichste Werk ist. Minutenlang den Leser unterbrechend, fassungslos ihn in seiner Lektüre bei zugeschlagenen Buch erschüttert zurücklassend. Auch hier (wie etwa bei Norbert Hummelt) zwingt das Gedicht zur Übernahme einer Perspektive, die in sich labil ist, die eingeschränkt ist in ihrer Wahrnehmung der »Mimik«, die sich in all ihrer Verletzlichkeit hingibt als Sprache, nur um schließlich wie betäubt dazustehen als Frage, die in all ihrer expressiven Potenz letztlich sich als »stumm« bloßlegt und als solche zu erkennen gibt.

Auch Texte, die als Reflexionen auf die menschliche Geschichte angelegt sind, operieren mit dieser Vulnerabilität. Dies ist angesichts der Völker, die sich hier im Modus des Dialogs begegnen, sicherlich zu erwarten, aber die Ausführung dieses sensiblen Themas ist durch die Auswahl der Texte sicherlich produktiv. Beispielsweise im Gedicht »Wie auf dem Schlitten« von der Prager Altphilologin Sylvia Fischerová: »Alles, die ganz Last der Tage und Nächte, / liegt auf einer schiefen Ebene / und rutscht nach unten, / […] Und auch wir fahren wie auf dem Schlitten / und halten über unseren Köpfen / jeder seinen / hölzernen / Löffel der Leere«. Führt uns hier Lethe auf einer Schlittenfahrt den Hang hinunter oder wird uns durch die Leere der Löffel deutlich gemacht, dass die mit Oblivion untergegangene Erfahrung der Zeit und damit der Erfahrung der Geschichte immerfort unausgeschöpft bleiben muss im Kopf des Einzelnen?

Diese permanenten perspektivischen Neujustierungen sind Teil der geschichtsphilosophischen Texte. Im Prosagedicht »Der Fall Madonna« schreibt etwa Jakub Zahradník: »Inmitten der Berge stoße ich auf ein Mädchen. Sie kommt aus irgendeinem Lager, vielleicht hat sie ihren Liebsten bei der Garnison besucht … Ach was! Heute gehen die Mädchen nicht mehr die Soldaten besuchen, und es gibt hier auch keine Garnison mehr. Sie schlägt die Tür des Geländewagens zu und schweigt. Auch ich bin still, wenn mir plötzlich einfällt –«. Es sind die schmerzlichen Erinnerungen des Zweiten Weltkrieges, die hier aufgegriffen werden, aber auch zahlreiche Prägungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die doch Europa so seltsam deformiert in die Gegenwart befördert haben, sind in zahlreichen Texten dokumentiert.

Die in diesen Tagen plötzlich wieder aktuell aufflammenden Archivalien des Kalten Krieges etwa: »das karussell der erde erzählte zu ende / die gravitation taute auf / endlich ist / das fliegen erlaubt // und meine flügel wissen / dass niemals götter existierten // nur göttinnen«. Und bevor man sich fragt, ob die Göttinnen vielleicht doch auch nur andere Gestalten von Götzen sind, sollte man sich über Lenka Mrázkovás Inszenierung vom Aufbruch am Ende der Geschichte erfreuen, darin die polar angeheizt wie zu Eis erstarrten Welt in starrer Konfrontation gegenüberstand und doch in ihrer Menschlichkeit unzerstörbar war mit der unaussprechlichen, aber als Erinnerung aufgesparten Lust der »Flügel« – die Engel der Geschichte.

Ich erwähne hier nur einige wenige Gedichte, die diese voluminöse Anthologie präsentiert. Ich kann aber nur emphatisch die anderen Texte z. B. von Zora Šimůková, Matthias Kehle, Janele z Liků, Ivan Bartoš, Pavel Herot, Marcus Roloff und vielen anderen Autoren und Autorinnen empfehlen, die durch die translatorische Diskursverwaltung Klára Hůrkovás zu einem Art Responsorium zusammengeschnürt worden sind. Sollte sich die These, dass das 21. Jahrhundert eine Poesie der Zwischenwelten und der Hybridisierung sein wird, bestätigen, so liegt mit dieser Anthologie gewiss eines der vielen Unikate vor, das die Lyriklandschaft des neuen Jahrtausends nicht einfachhin als verbale Globalisierung verrechnen können wird, sondern als Meilenstein auf einer strukturellen Neubeschreibung der Welt als dialogisches Ereignis erkennen muss. Es sind nämlich Bücher wie dieses hier, das sowohl von persönlichem Engagement wie auch von einer glücklichen personellen Fügung lebt, die die Bezogenheit des indigenen Sprachgebrauchs auf das wechselseitig Fremde herausfordern und deutlich werden lassen. Auf zum dritten Teil dieser Anthologie, möchte man Klára Hůrková aus der Ferne zurufen!

»Nad Střechami Světlo | Über den Dächern das Licht« von Klára Hůrková (Hrsg.)Nad Střechami Světlo | Über den Dächern das Licht
Klára Hůrková (Hrsg.)
Dauphin Verlag, Prag 2014
336 S., sowie 10 monochrome Fotografien von Lenka Mrázková
€ 12,00 (Broschur)

 

 

 

Diese Rezensionen werden Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Gedichtbände: »duktus operandi« (2010), »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Er ist ebenfalls Übersetzer und Mitherausgeber der internationalen Ausgabe der Lyrikzeitschrift DAS GEDICHT (»DAS GEDICHT chapbook. German Poetry Now«). Soeben erschienen ist »Am Ende der Zeilen. Gedichte | At the End of Days. Gedicht:Poetry«.

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