Zwischen Stillstand und Fortschritt

Markus Bundi im Gespräch mit Franziska Röchter über sein Buch »Gehen am Ort«

Markus Bundi (*1969)

  • Lyriker aus Baden (Schweiz)
  • www.markusbundi.ch
  • Markus Bundi wurde in Wettingen geboren und lebt in Baden (Schweiz).
    Er studierte Philosophie, Neue Deutsche Literatur und Linguistik an der Universität Zürich (lic. phil. l). Von 1996 bis 2005 arbeitete er als Kulturredakteur bei der »Aargauer Zeitung« (verantwortlich für Literatur, Philosophie und zeitweise fürs Theater).

    Er war u. a. Juror beim »Alemannischen Literaturpreis« (1999 – 2002), Mitglied der Programmkommission für die Solothurner Literaturtage (2001, 2002) sowie Kurator der Frauenfelder Lyriktage (2007). Im Jahr 2008 gab Markus Bundi zusammen mit Anton G. Leitner die Gesundheitsausgabe der Lyrikzeitschrift DAS GEDICHT (Band 16, »Gefühlter Puls – rezeptfreie Gedichte«) heraus.Seit 2010 ist Markus Bundi Herausgeber von »DIE REIHE« im Wolfbach Verlag. Zudem ediert er seit 2011 die Werkausgabe von Klaus Merz im Haymon Verlag.

Markus Bundi. Foto: privat

»Ich glaube an vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten, weniger hingegen an Fortschritt.«
Markus Bundi

dasgedichtblog: Herr Bundi, ist für einen Außenstehenden der Buchtitel »Gehen am Ort« nicht widersprüchlich? Diese Wortkombination suggeriert eine Bewegung im Stillstand, also ein »auf der Stelle treten« oder ein »Gehen auf dem Laufband«, während man das Verb »gehen« allein ja eher mit »weg«, »fort«, »aus dem Ort heraus« assoziiert. Soll der Titel vermitteln, dass da jemand keine riesigen Entfernungen zurücklegt, sich womöglich im Kreis dreht? In Ihrem Film zum Buch gehen Sie ja auch zweimal die gleiche Treppe hinunter?

Markus Bundi: Wenn der Titel solche Fragen auslöst, dann hat er seinen Zweck schon mehr als erfüllt. Tatsächlich habe ich mir nicht eine Erklärung dafür zurechtgelegt, rechnete aber damit, dass jemand stolpern könnte, weil es ja nicht, was geläufiger wäre, »Gehen an einen Ort« heißt. Bewegung findet statt, in welchem »Schwenkbereich« und wie viele Kilometer dabei in welcher Zeit zurückgelegt werden, darf durchaus offen bleiben. Die eine geht große Wege und findet sich eines Tages wieder am vertrauten Ort, der andere bewegt sich kaum und steht doch plötzlich neben den Schuhen. Oder anders gesagt: Ich glaube an vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten, weniger hingegen an Fortschritt.

dasgedichtblog: Ja, das wird deutlich, wenn Sie schreiben: »Es war einmal ein Tier, das dachte / sich wunderte, dass es dachte, sich fragte / was es mit dem Dasein auf sich hatte.« In Ihrem ersten Text, einem Schnelldurchlauf der menschlichen Genese, bekomme ich den Eindruck, dass Sie der sogenannten Kultiviertheit des Menschen nicht trauen?

Markus Bundi: Zunächst: Ich liebe die Menschen. Was die Kultiviertheit betrifft, so lehrt uns die Geschichte wie auch die Gegenwart zu differenzieren: Ich kenne sehr kultivierte Menschen, aber eben auch andere. Von Nietzsche stammt die Definition, der Mensch sei »das nicht festgestellte Tier« – das meint zunächst ein Wesen, dessen Potential (noch) nicht ausgeschöpft ist. Allerdings neige ich, wenn ich zum Beispiel Platon lese, sehr zu der Auffassung, dass der Mensch die letzten 2500 Jahre kaum gescheiter geworden ist. Wer weiß, vielleicht befinden wir uns bereits in der letzten degenerativen Schleife …

dasgedichtblog: Das ist durchaus eine berechtigte Annahme, wenn man sich die Zahl degenerativer Erkrankungen des Bewegungsapparates, die prognostizierte Zunahme dementieller Erkrankungen sowie die stetige Zunahme von Depressionen oder Burn Out-Erkrankungen vor Augen führt.

Im Kapitel 2 Ihres Buches bekam ich zunächst einen Schreck: Der Anfang von »Ogerles Erwachen« hat mich sehr an Kafkas »Verwandlung« erinnert. Verarbeiten Sie in diesem Text persönliche Krankheitserlebnisse?

Markus Bundi: Danke der Nachfrage! Aber im Ernst: Mir geht es ganz gut. Was den Oger angeht, in seiner Geschichte kann man durchaus eine Gesundschrumpfung – eben hin zum Ogerle – sehen; ein Mensch, der sich allmählich seiner Mickrigkeit, seiner Hilf- und Ahnungslosigkeit bewusst wird. Abgesehen davon hat mich einfach die Vorstellung gereizt, wie es wohl ist, plötzlich als Däumling in einem Briefkasten aufzuwachen – wenngleich in der Geschichte diese Erkenntnis erst ganz zum Schluss folgt.

Kafka will ich dagegen lieber unangetastet lassen … ist mir einige Schuhnummern zu groß.

»Allzu weit sollte sich der Autor nicht in die Interpretation einbringen.«

dasgedichtblog: Im Märchen ist ein Oger ein Menschen fressendes Ungeheuer, heute bezeichnet dieser Begriff ein fiktives, menschenartiges, aber missgestaltetes Wesen, das sich in der Regel durch enorme Körpergröße und Kraft auszeichnet. Oger werden meist als zwar gewalttätig und aggressiv, aber eher dumm dargestellt. Der »Shrek« aus dem gleichnamigen Film ist ja auch ein Oger. Ihr Oger ist aber ein »Ogerle«, das heißt, Größe und Kraft sind ihm abhanden gekommen. Handelt es sich dabei um eine Allegorie auf einen Großteil der Menschen, die wie Ihr Ogerle in einem gefühlten »Briefkasten« gefangen sind und von denen es nur wenige schaffen, durch den Schlitz nach draußen zu kriechen?

Markus Bundi: Ich kann nur unauffällig nicken – im Weiteren aber schweigen. Gewiss, der Name Mick Ogerle ist bewusst gewählt; dass dieser so und nicht anders in die Geschichte eingebettet ist, da wird sich der Autor schon was gedacht haben! Doch allzu weit sollte sich dieser Autor nicht in die Interpretation einbringen. Ein literarischer Text eröffnet ja immer mehrere Möglichkeiten; solche, die der Autor vorgesehen hat, aber auch solche, an die er nicht gedacht hat. Mit Texten geschieht also vieles, und sind sie mal veröffentlicht, gehören sie den Leserinnen und Lesern – sie sollten nicht von ihrem Autor im Nachhinein kastriert werden.

dasgedichtblog: Auf keinen Fall. Aber für den Leser kann es ja manchmal trotzdem hilfreich sein, einen kleinen Wink zu bekommen. Man möchte ja auch nicht ›Opfer‹ einer Überinterpretation sein …

Markus Bundi: Nun, ich hege schon die Hoffnung, dass meine Texte auch ohne Philosophiestudium zu lesen sind. Was ich über die Seite des Lesers und die Rolle des Autors sage, meine ich auch generell: Ein Autor sollte seine Texte nicht im Nachhinein einzäunen; das spräche immer gegen den Text. Hingegen bin ich als Leser ein Verfechter von textimmanenten Interpretationen: Also alles, was interpretiert wird, soll sich am Text festmachen lassen, nachvollziehbar sein. Dabei gibt es gewiss nicht unzählige Möglichkeiten, aber hoffentlich immer mehr als eine (und vielleicht auch solche, die der Autor nicht bedacht hat). Nennt nun der Autor aber eine, läuft er Gefahr, die andern zu verschütten.

Sie nannten ja Kafka. Nehmen wir eine Erzählung wie »Der Jäger Gracchus«: Hielte man nur eine Interpretation hoch, würde man den Text quasi vernichten. Insofern sehe ich durchaus eine Parallele zu meinen Texten: Gäbe es eine Lösung, eine Botschaft, dann wäre der Text eindimensional und missglückt. Darum stimmt alles, was Sie zu Ogerle und der Namensherleitung sagen, doch es stimmt eben auch anderes. Ich hatte beim Schreiben noch andere Aspekte im Kopf, sodass ich genauso gut sagen könnte, der Name kam erst zum Schluss, als es darum ging, etwas Passendes für die Figur und die Geschichte zu finden. Aber steht der Name dann und schwingt dessen Bedeutung mit, macht man kleine Anpassungen bei der nächsten Überarbeitung usw. Und nochmals zurück zum Leser, da halte ich es mit Erika Burkart (vielleicht aber stammt das Diktum auch von jemand anders): Ein Text ist immer das, was sein Leser daraus macht.

dasgedichtblog: Sie machen sich in Ihrem Band auch Gedanken um die Zukunft der Menschheit, etwa ob der Mensch zukünftig als ferngesteuerter Vollautomat in die Menschheitsgeschichte eingehen wird.

Markus Bundi: Ja, ich bin ein großer Fan von Science-Fiction-Filmen, allerdings weit davon entfernt, eine Ahnung zu haben, welches Szenario Realität werden wird. Was mir heute auffällt, ist die Abhängigkeit von der digitalisierten Welt, die sich doch in sehr kurzer Zeit entwickelt hat, und dies in einem Ausmaß, das mich erstaunt: Manch einer, so scheint es mir, hat seine Identität inzwischen an sein Smartphone delegiert.

»Es ist schon viel, die richtigen Fragen zu stellen.«

dasgedichtblog: In Ihrem vierten Kapitel »Einstimmen« gibt es unter anderem Statements zur Bedeutung von Sprache. Zum Beispiel heißt es dort: »Wer spricht, transformiert Zweifel, Zweifel sich selbst gegenüber.« An anderer Stelle schreiben Sie: »Wir haben nichts zur Hand, was uns zwischen Ursache und Wirkung unterscheiden ließe.« Kommt man da nicht automatisch zur Überlegung, wodurch sich die Evolution in Gang gesetzt hat? Wo der Anfang ist? Können Sie als Philosoph das noch einmal erklären?

Markus Bundi: Wäre ich Philosoph, könnte ich das vielleicht. Doch ich habe dieses Fach lediglich studiert, und wenn ich etwas dabei gelernt habe, dann vielleicht dass es schon viel ist, die richtigen Fragen zu stellen. Kurzum: Ich habe keine Ahnung, wie die Evolution in Gang gesetzt wurde; von einem Anfang gar nicht zu reden. Auch wenn es nach Ausrede klingt: Darauf gibt es wohl keine Antworten. Selbst der große Aristoteles hat an den Anfang einen »unbewegten Beweger« gesetzt, also ein Paradoxon. Und hört man die Atomphysiker von heute, so lassen diese uns wissen, dass die Frage, was vor dem Urknall war, unzulässig sei, weil es davor keine Zeit gab. Na, dann?!

Ich glaube, dass die Akzeptanz für die Unmöglichkeit von Antworten auf diese großen, sprich ersten und letzten Fragen uns ja vielleicht zurück in den Alltag führt, zu den Kleinigkeiten und Unscheinbarkeiten, die uns doch weit mehr bewegen, weil sie uns tatsächlich angehen.

dasgedichtblog: Lieber Herr Bundi, herzlichen Dank für dieses interessante Gespräch.

Markus Bundi
Gehen am Ort. Prosa und Lyrik

Edition Isele, Eggingen, 2011
64 Seiten
ISBN 978-3-86142-522-9
Euro 15,20 [D]

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