Fremdgehen, jung bleiben – Folge 12: Helena Kieß

Junge Lyrik sieht sich selbst oft als eine Quelle der Innovation. Die Schnelllebigkeit der modernen Sprache, die Vielfalt der heutigen Gesellschaft mit all ihren frischen Einflüssen aus Ost, West, Süd und Nord verändern auch die Literatur tiefgreifend. Und so legt Leander Beil an jedem 8. des Monats den Fokus auf das kulturell und sprachlich Andere, das vermeintlich Fremde in der noch jungen Textwelt. »Fremdgehen, jung bleiben« nimmt jeweils einen Text oder Textausschnitt unter die Lupe und spielt essayistisch mit diesem – ohne den Spielregeln einer starren Analyse zu folgen.

 

Zum Jahresbeginn drehen wir den Spieß um, wir beginnen einfach mal mit dem Gedicht zum Thema »Fremdgehen, jung bleiben«:
 

diebin ohne papiere
diebin ohne papiere
ich gab dir keinen korb sondern verpasste dir meinen pass, du trugst ihn davon mit dem verbrecherbild; und hörtest nicht auf mich zu lieben.
 

© Helena Kieß, Dresden
 

Eigentlich bleibt nach diesen zwei kurzen, aber prägnanten Zeilen von Helena Kieß (*1996, Dresden) auch gar nicht mehr viel zu sagen außer: Ja, Frauen sind lebensgefährlich. Längst ist bewiesen, dass Männer mit einer Partnerin ein geringeres Risiko für einen Herzinfarkt haben – vorausgesetzt die Beziehung ist glücklich. Im Grunde sind wir Männer sensibel und verletzlich. Unser Selbstwertgefühl ist schon so ein zerbrechliches Ding. Eine starke Frau an der Seite? Nicht, dass die einen sogar noch übertrumpfen könnte in Sachen Erfolg.

Okay, der Autor dieses Textes gibt zu: Dieses ganze Rollengedöns geht ziemlich auf den Sack. Das Geschwafel von verweichlichten Männern, von kalten Karrierefrauen. Und gerade da ist es erfrischend, einen kurzen Zweizeiler zu lesen wie »diebin ohne papiere«. Denn hier wird das Spiel der Geschlechter locker leicht aufgenommen, die Autorin jongliert, balanciert und verliert nie das Gleichgewicht. Sie deutet Nähe an, geht aber schnell wieder auf Distanz. Das Spiel mit den Persönlichkeiten wird greifbar. Ist man noch man selbst, wenn man verliebt ist? Wie schön ist es doch, ein Liebesgedicht zu lesen, eins, das sich selbst nicht zu ernst nimmt. (Und hoffentlich auch eine Kurzrezension, die dasselbe versucht.)

 

Leander Beil. Foto: Volker Derlath
Leander Beil. Foto: Volker Derlath

Leander Beil, geboren 18.08.1992 in München, lebt und studiert nach mehrjährigem Brasilienaufenthalt in München. Mitglied des Münchner Lyrik-Kollektivs »JuLy in der Stadt« (www.julyinderstadt.de). Erste Lyrikveröffentlichungen in »Drei Sandkörner wandern« (Deiningen, Verlag Steinmeier 2009), Versnetze 2/3 (hg. von Axel Kutsch, Weilerswist, Verlag Ralf Liebe 2009), NRhZ-Online (Literatur), »Die Hoffnung fährt schwarz« (München, Verlag Sankt Michaelsbund 2010), »Ois is easy« (München, Verlag Sankt Michaelsbund 2010), »Der deutsche Lyrikkalender 2012« (Boosstraat, Alhambra Publishing 2011), www.lyrikgarten.de (Online Anthologie des Anton G. Leitner Verlags), DAS GEDICHT Bd. 17, Bd. 18, Bd. 19, Bd. 22, Bd. 23 (Weßling, Anton G. Leitner Verlag), »Pausenpoesie« (Weißling, Anton G. Leitner Verlag 2015).
Alle bereits erschienenen Folgen von »Fremdgehen, jung bleiben« finden Sie hier.

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