Fremdgehen, jung bleiben – Folge 5: Swantje Opitz

Junge Lyrik sieht sich selbst oft als eine Quelle der Innovation. Die Schnelllebigkeit der modernen Sprache, die Vielfalt der heutigen Gesellschaft mit all ihren frischen Einflüssen aus Ost, West, Süd und Nord verändern auch die Literatur tiefgreifend. Und so legt Leander Beil an jedem 8. des Monats den Fokus auf das kulturell und sprachlich Andere, das vermeintlich Fremde in der noch jungen Textwelt. »Fremdgehen, jung bleiben« nimmt jeweils einen Text oder Textausschnitt unter die Lupe und spielt essayistisch mit diesem – ohne den Spielregeln einer starren Analyse zu folgen.

 

»Schneewittchen hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen« – wer kennt sie nicht auswendig, die Passage, in der die »böse Königin« ihren legendären Spiegel befragt. Und doch erscheint es einem heute fast wie ein Wunder, dass gerade solch scheinbar »altbackene« Märchen immer noch von großer Wichtigkeit sind für unsere Gesellschaft. Sie werden verarbeitet als Film, als Hörspiel, als Musical, als Theaterstück; im Grunde scheinen sie ihre Strahlkraft nicht zu verlieren. Die Gebrüder Grimm trugen – auch mit dem »Deutschen Wörterbuch« – einen wesentlichen Teil zur Entstehung unserer modernen deutschen Literaturwissenschaft bei.

Märchen sind mehr als Geschichten aus dem Volksmund, sie sind auch Zeugnisse für die große Flexibilität eines Kulturkreises. Sie nehmen Einflüsse aus den verschiedensten Gegenden und Idiomen auf, sie verarbeiten diese und manifestieren sich gleichzeitig als Inbegriff einer »deutschsprachigen Kultur«. Man könnte schlussfolgern, das Märchen tut im Kleinen, was im Moment im großen Stil möglich werden muss: Es integriert das Fremde in das, was gemeinhin als das Heimische erkannt wird.

Genau diese Symbiose macht auch den Text von Swantje Opitz (25, wohnhaft in Berlin) reizvoll. Mit einem direkten, schmucklosen Einstieg wird sogleich deutlich, wohin der Text führen soll: »Trinke von meinem Becherchen, / iss von meinem Tellerchen«; eine leicht variierte Passage aus dem Grimmschen Märchen. Hier erkennen die sieben Zwerge, dass Schneewittchen heimlich Zuflucht in ihrem »Häuschen« gesucht hat. Was Opitz’ Text nun ohne große Anstrengung vollbringt, ist die Einbettung der christlichen Moral des Schneewittchen-Märchens in den aktuell politischen Kontext: Wer auf der Flucht ist, soll Schutz erhalten. Wer Hilfe braucht, soll Hilfe bekommen.

Doch ist es hier die Einfachheit der Mitteilung, die gefällt, die die Komplexität von so manchem politischen Gedicht in Frage zu stellen scheint. Opitz weiß umzugehen mit dem Worte-Setting, das ihr das Grimmsche Märchen vorgibt, und führt trotzdem mit dem Meta-Bezug des »Liedes« eine neue Ebene ein. Die mündliche Tradierung, die stete Weiterentwicklung des Märchen-Genres macht eines deutlich: Auch die in der allgemeinen Vorstellung noch so starren Besitzverhältnisse sind beweglicher und temporärer, als man meinen mag.

Generell betont Opitz’ Text den ihm inhärenten Vergänglichkeits-Aspekt (»heute sind sie bieder, /morgen ganz verschrien«) und erinnert einen somit auch an die eigene National-Geschichte. Die Geschichte eines Landes, die sich innerhalb von nicht einmal 100 Jahren mehrmals auf den Kopf stellte. Auch wenn der Begriff des »Staats« am Ende etwas aus dem Duktus des Textes herausfällt, ist besonders das Spiel mit dem Märchen reizvoll und modern. Hoffen wir, dass ein Märchen kein Märchen bleiben muss.
 

Das Märchen

Trinke von meinem Becherchen,
iss von meinem Tellerchen.
Sitze auf meinem Stühlchen,
Schlafe in meinem Bettchen.

Nimm dir, was du willst.
Nimm dir, was du brauchst.
Nimm dir meine Lieder,
Leb‘ in meinem Haus.

Der Becher von der Mutter,
der Teller von einem Freund,
der Stuhl von meinem Vater,
das Bett von einem Feind.

Und alle diese Lieder,
sind auch nur gelieh‘n,
heute sind sie bieder,
morgen ganz verschrien.

Und diese meine Heimat
gehört gar nicht mir,
‘s gibt nirgends einen Staat,
der nicht auch gehörte dir.
 

© Swantje Opitz, Berlin

+ Zur Autorin

 

Leander Beil. Foto: Volker Derlath
Leander Beil. Foto: Volker Derlath

Leander Beil, geboren 18.08.1992 in München, lebt und studiert nach mehrjährigem Brasilienaufenthalt in München. Mitglied des Münchner Lyrik-Kollektivs »JuLy in der Stadt« (www.julyinderstadt.de). Erste Lyrikveröffentlichungen in »Drei Sandkörner wandern« (Deiningen, Verlag Steinmeier 2009), Versnetze 2/3 (hg. von Axel Kutsch, Weilerswist, Verlag Ralf Liebe 2009), NRhZ-Online (Literatur), »Die Hoffnung fährt schwarz« (München, Verlag Sankt Michaelsbund 2010), »Ois is easy« (München, Verlag Sankt Michaelsbund 2010), »Der deutsche Lyrikkalender 2012« (Boosstraat, Alhambra Publishing 2011), www.lyrikgarten.de (Online Anthologie des Anton G. Leitner Verlags), DAS GEDICHT Bd. 17, Bd. 18, Bd. 19, Bd. 22, Bd. 23 (Weßling, Anton G. Leitner Verlag), »Pausenpoesie« (Weißling, Anton G. Leitner Verlag 2015).
Alle bereits erschienenen Folgen von »Fremdgehen, jung bleiben« finden Sie hier.

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