Gedichte mit Tradition, Folge 32: »1 ich am see & veilchen kommen keinesfalls«

»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer

 

Eine kleine Bemerkung vorneweg, liebe Leser, möchte ich nun einmal anbringen. »Er ist’s«, heißt das Gedicht, um das es letzte Woche ging, diese Woche geht, nächste Woche gehen wird. »Es ist’s«, möchte man fast rufen, denn geht es um Nach- und Weiterdichtungen, gehört dieses Mörike-Poem stets zu den Beliebtesten – und dreht es sich gar um Frühlingsgedichte mit literaturhistorischem Bezug, so lässt es nahezu keine anderen gelten. Woran das liegt? Gewiss daran, dass es sich seit Generationen aus unseren Grundschulen nicht wegdenken lässt. Quasi flächendeckend gehört es bis heute zu den ersten Gedichten, die der Grundschüler auswendig zu lernen hat. Es ist also wahnsinnig bekannt. Mithin kommt es dem Dichter dann zum einen leicht in den Sinn, wenn er eine Nachdichtung anstrebt, zum anderen kann er sicher sein, dass sein Nachbild auch vollkommen und als solches problemlos verstanden wird – ein weiterer Pluspunkt. In seiner herrlichen Naivität, gepaart mit zumindest vorgeblicher Zeitlosigkeit und seinem recht allgemeinen Ansatz sowie seiner angenehmer Kürze, lädt es zudem schlicht dazu ein, es nicht nur im Kanon zu behalten (es bleibt verständlich und findet allerorten genug Grund und Platz, um abgedruckt zu werden), sondern auch als Anstoß für eigene Verse zu verwenden: Was kann man nicht alles daraus machen, wenn man es weiterspinnt! Einen schönen Einblick hierein, in die Vielfalt der Möglichkeiten, vermitteln die drei Gedichte, die anlässlich des Frühlingsbeginns 2016 in dieser Reiher hier vorgestellt werden. Sprachspielerisch-heiter nachgebildet hat Gabi Hoeltzenbein es umgearbeitet (siehe vorangegangenen Beitrag der »Gedichte mit Tradition«). Dabei hat sie im Grunde den Ton des Originals samt Motiv und Form übernommen – und doch aus etwas eher Antiquiertem etwas Frisch-Neuzeitiges gemacht. Pega Mund nun rückt in Stimmung, Form und Motiv weit vom Original ab, kontrastiert so das Heute mit dem Damals (oder auch nur ihr eigenes Sein mit dem Mörikes) – und lässt dabei das Original so unverkennbar mitschwingen, dass es als Resonanzboden quasi die Kontraststimmung noch verstärkt. In der kommenden Woche werden dann Verse von Karsten Paul als Folge 33 der »Gedichte mit Tradition« erscheinen, die rein humoristisch lediglich auf einen Teilaspekt des Frühjahrs abheben – der in der heutigen Gesellschaft beständig an Relevanz gewinnt: die Pollenallergie. Dabei folgt die Form streng dem Original, und auch die Klangfarbe zeigt sich bewusst teils modern, teils altertümlich. Hier, in seinem »Er niest«, ist die Grundstimmung dann wieder heiter – aber anders als bei Hoeltzenbein und Mörike durchaus nicht pro Frühling. Doch nun zunächst einmal zu Munds melancholisch-meditativem Frühlingsgedicht:

Pega Mund

1 ich am see & veilchen kommen keinesfalls

siehst du den see? die laue luft läßt dich an blaue
bänder denken: ahnungsvolles frühlingsflattern,
festgeschrieben. harfenton? ach, mörike & eichen~
dorff sind längst passé. hörst du dies knattern?
ein spielzeugboot flitzt ferngesteuert und macht:
krach. die welt? hat sich verändert. alle weichen
wurden neu gestellt. die mitleidlose sonne: lacht.
da. ich. am see. und schweigt. die veilchen kommen
keinesfalls in frage. das steht fest. der ganze rest
ist klimakatastrophisch lauwarm weggeschwommen.
kein halt. am see. ich. ohne antwort. alt.
 

© Pega Mund, Gröbenzell
 

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Gedichte mit Tradition»Gedichte mit Tradition« im Archiv

Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung erstveröffentlichter zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.

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