Jubiläumsblog. Ein Vierteljahrhundert DAS GEDICHT
Folge 38: Ulrich Johannes Beil – Der Mensch hinter dem Dichter

Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.

Ulrich Johannes Beil, geboren 1957 in München, ist Lyriker, Essayist und Literatur­wissen­schaftler. Beil studierte Germanistik, Philo­sophie, Theologie und Polito­logie in München, wo er 1988 promovierte. Von 1995 bis 2000 war er Chef­redakteur der von Anton G. Leitner heraus­gegebe­nen Jahres­schrift DAS GEDICHT. Er lehrte und forschte seit 1988 an den Uni­versi­täten Hokkaido in Sapporo (Japan), München, Göttingen und São Paulo, Brasilien. 2003 habilitierte er sich an der Uni­versität München und war von 2006 bis 2017 als Senior Researcher am Nationalen Forschungs­schwerpunkt »Medien­wandel – Medien­wechsel – Medien­wissen: Histo­rische Per­spektiven« an der Uni­versität Zürich tätig.

Ulrich Johannes Beil lebte – bedingt durch seine Berufstätigkeit in Forschung und Lehre – auf verschiedenen Kontinenten. Er sprach mit Franziska Röchter über seine wissenschaftliche Arbeit, seine außergewöhnlichen Buchveröffentlichungen, Glauben und Aberglauben und über das Land mit dem größten Optimismus.

Die Lyrik kommt vor der Prosa!

Lieber Ulrich Johannes Beil, sprechen Sie neben Ihrer Muttersprache Deutsch auch Japanisch? Zumindest haben Sie zusammen mit Masako Shibasaki »Yoshiro Ishihara. Gedichte« (in: Sirene 10, Neue Welt Verlag, Wien 1992) aus dem Japanischen übersetzt …

Mit dieser Frage treffen Sie einen wunden Punkt. Ehrlich gesagt, ich habe zwar drei Jahre in Japan gelebt, bin aber über eine elementare Alltagsverständigung nie hinausgekommen. Von der so wunderbaren wie komplexen Schrift gar nicht zu reden. Da habe ich nie mehr als hundert, hundertfünfzig Zeichen (Kanji) beherrscht – und erst ab etwa 2.000 Zeichen kann man eine Boulevardzeitung lesen! Warum ich dann japanische Gedichte ›übersetzte‹? Sie deuten es an: Es war eine angenehme Zusammenarbeit mit einer japanischen Studentin, die für mich die Interlinear-Übersetzung von Gedichten Ishiharas anfertigte, die ich durchweg beeindruckend fand. Diese Version habe ich dann, so gut es ging, ›poetisiert‹, also versucht, im Deutschen richtige Gedichte daraus zu machen.

Ab 1988 lehrten und forschten Sie unter anderem an der Hokkaido University in Sapporo. Was waren dort Ihre Schwerpunkte und wie oft sind Sie aktuell noch in Japan?

Mein Japan-Aufenthalt liegt schon knapp 30 Jahre zurück – 1988 bis 1991 –, ist also ein ziemlich frühes Kapitel in meiner Biographie. Eine Kuriosität am Rande: Dem DAAD gelang es mit Hinweis auf die rigiden rechtlichen Verhältnisse in Japan, meine damalige Freundin und mich zur Heirat zu überreden; das vereinfache dort vieles, hieß es. Wir haben dies übrigens nicht bereut, wir sind noch immer zusammen. Dann hatten wir auch noch das Glück, beide eine DAAD-Lektorenstelle an der Hokkaido University zu erhalten, mit Büros, die nur fünf Gehminuten voneinander entfernt waren. Geforscht habe ich damals zu verschiedenen Themen; hervorzuheben wäre wohl der Aspekt des ›Fremden‹ (Fremdheit, Andersheit), der angesichts eines solchen Aufenthalts ja nahe lag und zu dem ich kurz zuvor in Österreich eine Tagung (mit-)veranstaltet hatte. Merkwürdigerweise trug dann der Internationale Germanistenkongress, der 1990 in Tokyo stattfand und auf dem ich einen Vortrag über Kleists »Penthesilea« hielt, den gleichen Titel wie meine Tagung: »Begegnung mit dem Fremden«.

Sie fragen, wie oft ich aktuell in Japan bin. Da muss ich leider sagen, dass ich es seither nicht mehr geschafft habe, nach Japan zu fliegen und die alten Freunde aufzusuchen, teils aus terminlichen, teils aus finanziellen Gründen, teils auch, weil andere Länder in den Vordergrund rückten. Aber ganz lässt mich Japan nicht los; so habe ich in diesem Frühjahr einen Aufsatz über Haikus geschrieben, die kürzeste Gedichtgattung, die es gibt, und zwar in einem Band über »Nanotextualität«, der soeben im Fink-Verlag erschienen ist.

 

Ulrich Johannes Beil. Foto: Volker Derlath
Ulrich Johannes Beil. Foto: Volker Derlath

 

Die häufig zu beobachtende Nichtachtung von Lyrik in Romanen wurde für mich zur Herausforderung.

Sie waren vier Jahre lang Gastprofessor an der Universidade de São Paulo, Brasilien, und haben sich in der Zeit auch an der Universität München habilitiert. Ihr Thema »Die hybride Gattung. Poesie und Prosa im europäischen Roman von Heliodor bis Goethe« (Königshausen & Neumann, Würzburg 2010) wurde ja recht umfangreich von Ihnen bearbeitet. Können Sie den Lesern vielleicht kurz schildern, was mit hybride Gattung gemeint ist und was genau Sie untersucht haben?

Die Arbeit war im Wesentlichen schon fertig, als ich zur Jahrtausendwende nach Brasilien aufbrach. Dort erfolgte nur noch der letzte Schliff. Was ist eine hybride Gattung? Im Schulbuch besteht man normalerweise auf der Trennung der Gattungen, die dann meist auch fein säuberlich definiert werden: Lyrik, Epik, Dramatik. Mir ging es darum, die in der Regel gesondert behandelten Schreibweisen Lyrik und Prosa eben dort zu untersuchen, wo sie sich berühren, bekämpfen oder in einen spannungsvollen Dialog treten: im prosimetrischen Roman, in jenen Prosatexten also, in denen sich auch Verse unterschiedlicher Länge und Machart finden. Diese Texte stellen für mich eine hybride, die Gattungen mischende Gattung dar.

Ein Thema, das oft auch von Experten übersehen worden ist: Wer über Eichendorffs »Ahnung und Gegenwart« schreibt, muss kein Wort über die zahlreichen eingefügten Lieder verlieren, niemand nimmt ihm das übel. Eben diese häufig zu beobachtende Nichtachtung von Lyrik in Romanen wurde für mich zur Herausforderung. Und von daher reizte es mich, mir in meiner komparatistischen Arbeit exemplarische Romane seit der Antike anzusehen, Texte unter anderem von Heliodor, Petronius, Sannazaro, Montemayor, Sidney, Cervantes und Goethe, und zu prüfen, welche Funktion die Verse im Romanganzen haben – ob sie die Prosa weitgehend nur ergänzen und illustrieren, ob sie ihrer Übermacht Widerstand leisten oder ob sie, wie im »Wilhelm Meister«, ihr eigenes Verschwinden inszenieren. Dabei geht es immer auch um die archaische Macht des Verses gegenüber der ›Modernität‹ der Prosa.

Bis kürzlich forschten Sie ja an der Universität Zürich zu medienwissenschaftlichen Themen. 2012 veröffentlichten Sie gemeinsam mit Christian Kiening den Band »Urszenen des Medialen. Von Moses zu Caligari« (Wallstein Verlag, Göttingen). Sie gehen darin kulturgeschichtlich zurück bis ins christliche Alte Testament. So sei schon der »schreibende Gott« im biblischen ein »Urbild des Medialen«. Was muss denn geschehen, damit etwas zum Medium wird?

Bevor ich zum Thema komme: Diese Zusammenarbeit war ein ausgesprochener Glücksfall, da ich mit Christian Kiening, dem Direktor des Nationalen Forschungsschwerpunkt Mediality an der Universität Zürich, seit vielen Jahren befreundet bin und wir von daher eine gemeinsame geistige Ebene hatten. Ich habe selten eine so fruchtbare wissenschaftliche Zeit wie bei der Erarbeitung dieses Buches erlebt, bei der wir zwar jedes Kapitel zuerst einzeln schrieben, aber dann, nach ausführlicher Diskussion, gründlich überarbeiteten.

Die »Urszenen« sind ein Buch, das sich etwas abseits vom Mainstream der üblichen Medienwissenschaften bewegt. Dort beschäftigt man sich in der Regel mit modernen technischen Medien wie Radio, Fernsehen, Computer und Smartphone und vernachlässigt oft die geschichtliche Dimension dessen, wovon da die Rede ist. Die »Urszenen« haben es mit eben dieser historischen Dimension zu tun, und sie haben auch einen offeneren Medienbegriff. Es geht dabei nicht nur um die Beschreibung von technischen Gegenständen, sondern um die Analyse höchst unterschiedlicher Verhältnisse und Konstellationen, in denen diverse Dinge Medienstatus erhalten oder eine vermittelnde Funktion wahrnehmen können.

Ort unserer Untersuchung waren hochkanonische Bücher der abendländischen Tradition. Wir lasen Texte von der Bibel über Homer, Platon, Paulus, Ovid, Bonaventura, Beda Venerabilis, Nikolaus Cusanus, Cervantes bis hin zu Lessing, Balzac und Bram Stoker neu und versuchten, in ihnen durch unseren veränderten Blickwinkel ungewohnte Aspekte zu entdecken. Ich glaube und hoffe, dass uns dies gelungen ist.

Für welche Zielgruppe ist das Buch besonders interessant?

Sicher nicht nur für Medienexperten im engeren Sinne, sondern auch und vor allem für Leute, die eine Vorliebe für Literatur(-geschichte) haben und gerne einmal einen anderen Gang durch die Kulturhistorie und ihr wechselndes Imaginäres wagen wollen. Auch wenn die Lektüre nicht immer ganz einfach ist: Wir haben nach Möglichkeit essayistisch geschrieben und die Sekundärliteratur in die Anmerkungen verbannt.

Die Fröhlichkeit der miserabel bezahlten Müllwerker ist legendär.

2010 waren Sie Mitherausgeber von DAS GEDICHT Band 18: »Licht und Schatten«. In Ihrem sehr erhellenden Essay »Das Licht der Poesie im Schatten der Globalisierung – Wie Gedichte die Widersprüche der Gegenwart reflektieren« schreiben Sie, die Licht-Schatten-Symbolik in der Poesie würde in südlichen Ländern eine besondere Ausdruckskraft besitzen. Diese extremen Gegensätze zwischen Schönheit und Armut haben Sie während Ihrer Jahre in Brasilien sicher besonders beobachten können, aber vielleicht auch, dass das Prinzip Hoffnung dort am stärksten ist, wo das Elend am größten ist?

In der Tat kann man in Brasilien, vor allem, wenn man mehrere Jahre in São Paulo lebt, die Gegensätze gut beobachten, insbesondere die zwischen den Armen und den Reichen. Ich erinnere mich noch gut an einen Besuch bei einer emeritierten Kollegin des Germanistischen Instituts, einer brasilianischen Professorin, die in einem chicen ›condominio‹ unmittelbar am Rand eines Slums, einer Favela lebte; eine sehr sympathische Frau, die inzwischen leider verstorben ist. Sie, die, wie alle im ›condominio‹, eine ›empregada‹ aus der Favela beschäftigte, weigerte sich, als ich aufbrechen wollte, mich zu Fuß zum wenige hundert Meter entfernten Taxistand oder zum Bus gehen zu lassen: Das sei viel zu gefährlich, kaum würde ich einen Schritt nach draußen tun, würden ›die‹ mich sofort überfallen oder erschießen. So sehr ich auch widersprach, die alte, gebrechliche Dame bestand darauf, mich in die Tiefgarage zu begleiten und mit ihrem Auto zum Taxistand zu chauffieren – was sie dann auch tat.

Trotz dieser allüberall wahrzunehmenden sozialen Schieflage bin ich noch in keinem Land gewesen, das einen derartigen Optimismus verbreitet wie Brasilien. Sie sprechen nicht zu Unrecht vom »Prinzip Hoffnung«. Einfache Leute, die kaum wissen, wie sie mit dem bisschen Geld den Tag bestehen sollen, strahlen einen an, wenn man sie zum ersten Mal sieht, als seien sie beste alte Freunde. Die Fröhlichkeit der miserabel bezahlten Müllwerker, die mit den Abfallsäcken tanzen und sie sich lachend zuwerfen, ist legendär. Und die Funken dieses Optimismus und dieser ›alegría‹, die sich oft auch in der Mittelklasse finden, springen innerhalb kürzester Zeit auf die Ausländer über, und Deutsche, die man als ernst oder mürrisch in Erinnerung hatte, kennt man kaum wieder, sobald sie brasilianischen Boden betreten haben.

Fast alles kann zum Medium werden, sobald ein Text es dazu macht.

In Brasilien nimmt die Mitgliederzahl der Katholischen Kirche beständig ab, seit 1980 angeblich schon um 30 %, während die Kontaktaufnahme mit dem Übernatürlichen durch Religionen, in denen Medien eine zentrale Rolle spielen, immer mehr zunimmt. Solche Medien sind sicher weniger Gegenstand Ihrer Untersuchungen in »Urszenen des Medialen«?

Nein, da haben Sie Recht, solche spirituellen ›Medien‹, wie man ihnen auch bei einer Google-Suche als erstes begegnet, sind kaum oder nur punktuell Gegenstand des »Urszenen«-Buches. Über spirituelle Medien habe ich allerdings einmal ein Seminar an der Universität Zürich gehalten, der Titel lautete: »Trance, Hypnose, Somnambulismus«. Ich habe mich mit wachsendem Interesse diesen anderen ›Medien‹ zugewandt, zumal ich bald merkte, wie unerwartet nahe sie seit dem 19. Jahrhundert auch den technischen Medien stehen, man denke nur an die so lange erfolgreiche Geisterfotografie.

Was das »Urszenen«-Buch anbelangt, so kann in der Tat fast alles zum Medium werden, sobald ein Text es dazu macht, und sei es ein Rad, ein Spiegel, ein Teppich, ein Stein oder ein Pferd: Gefüge und Konstellationen zu erkennen, in denen dies geschieht, gehörte zu den Hauptaufgaben des Projektes. Wobei natürlich alte Medien wie Schrift- und Tonträger sowie Bilder oft die Hauptrolle spielen.

Inwieweit sind in Brasilien Götterglaube, Ahnenkult und Aberglaube noch sichtbar und nehmen Einfluss auf den Alltag? Hatten Sie dort besondere Erlebnisse und Begegnungen im Zusammenhang mit Religion und Glauben?

Die alten mythischen Religionen, etwa der Indios oder der Nachfahren der afrikanischen Sklaven, sind im Alltag der Brasilianer trotz jahrhundertelanger christlicher Mission durchaus noch stark präsent. Man spürt das nicht nur auf dem Land, sondern durchaus auch in einer Großstadt wie São Paulo. Wie Michel de Certeau sehr schön gezeigt hat, verstand man sich schon in Zeiten der Kolonisation auf einen spezifischen ›Gebrauch‹ der christlichen Religion, der aus dem Vorgeschriebenen auf subtile Weise etwas Anderes machte als das, was es nach dem Willen der Missionare sein sollte. So erhalten katholische Heilige heimlich Götternamen der Indios oder der Afrobrasilianer. So mischt sich auf geradezu skandalös-blasphemische Weise die Vorstellung vom christlichen Gottessohn, der von einer Jungfrau auf Erden geboren wird und das Leben eines ›normalen‹ Menschen annimmt, mit der Indio-Mythologie eines Gottes, der in die Geschöpfe seiner Welt eindringt und versucht, die Welt aus der Perspektive verschiedener Menschen, Pflanzen etc. zu sehen.

Man kann hier von einer Subversion des Christlichen durch die heidnischen Traditionen sprechen, und dies hat Auswirkungen bis heute. Das, was wir aus westlicher Sicht oft ›Aberglaube‹ nennen, lässt sich vielfach beobachten. So wurde mir bei der Besichtigung einer Fazenda im Landesinneren einmal erzählt, an dieser Tür, an dieser Schwelle – es war die Außentür der Küche – sei vor langer Zeit eine hochschwangere Sklavin erschlagen worden, weil sie nicht mehr in der Lage war, weiterzuarbeiten. Diese Sklavin kehre bis heute als Geist an der weißen Wand wieder, aber nur wenn man die Wand fotografiere; dann zeichne sich ihre Kontur auf dem Abzug ab. Diese Szene habe ich übrigens auch im Manuskript meines 400-seitigen Brasilien-Romans geschildert, der noch auf seine Veröffentlichung wartet.

Ist eigentlich der Begriff ›Aberglaube‹ heute überhaupt noch tragfähig? Wer oder was bestimmt, wo der Glaube aufhört und der Aberglaube anfängt?

›Aberglaube‹ ist ein schillernder, eigentlich überholter Begriff, der die Vorstellung des ›wahren Glaubens‹ als Gegenbegriff voraussetzt. Er diente den katholischen Inquisitoren und ihren Nachfolgern seit der Frühen Neuzeit als Kampfbegriff gegen Ketzertum und Häresie, auch die Hexenverbrennungen spielten hier eine Rolle. Heute neigt man eher zu dem Begriff ›Volksglauben‹, der neuerdings auch im Zusammenhang mit der Konjunktur der ›Populären Kulturen‹ (so ein neueres Studienfach) eine nicht unwichtige Rolle spielt.

Politisch zeigen sich Auswüchse autoritär vertretenen ›Volksglaubens‹ etwa in der tendenziellen Ent-Darwinisierung des Biologieunterrichts – in den USA wie neuerdings auch in Polen – oder in der Rückkehr zur Schöpfungslehre der Genesis. Hier sollte man allerdings besser von Fundamentalismus sprechen.

Einen wichtigen Stellenwert hat für mich nach wie vor die moderne Lyrik.

Sie beschäftigen sich ja auch mit der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft. Welche sind da Ihre speziellen Themen?

Die Themen alle aufzuzählen würde langweilen. Ich kann nur andeuten, wofür ich mich in den letzten anderthalb Jahrzehnten vorwiegend interessierte. Da wäre an erster Stelle Heinrich von Kleist zu nennen, dessen Prosa und dessen Dramatik mich gleichermaßen faszinieren. Zuletzt veröffentlichte ich in Frankreich einen Aufsatz zu »Käthchen von Heilbronn«. Besonders angetan hatte es mir zudem, nicht zuletzt aus brasilianischer Perspektive, »Die Verlobung in St. Domingo«. Auch Goethe spielte immer wieder eine Rolle, insbesondere in der Habilitationsschrift. Sonst beschäftigte ich mich vielfach mit neueren Autoren seit dem 19. Jahrhundert wie Adalbert Stifter, Hugo von Hofmannsthal, Ernst Weiß und Robert Musil; nimmt man den Film hinzu, so wären noch deutsche Stummfilme zu nennen, die ich untersucht habe, etwa Wegeners »Golem« oder Wienes »Caligari«.

Einen wichtigen Stellenwert hat, das versteht sich eigentlich von selbst, nach wie vor die moderne Lyrik. Da schrieb ich zuletzt über Rolf Dieter Brinkmann und (den soeben verstorbenen) John Ashbery, dem ich auch als Lyriker viel verdanke.

Derzeit wechseln Sie Ihren ständigen Wohnsitz ja aus der Schweiz Richtung München. Werden Sie Ihre vielfältigen Forschungsgebiete wie Gattungstheorie, Gegenwartslyrik oder Interkulturalität dort fortsetzen oder mehr in der Lehre tätig sein?

Die Arbeit am NFS Mediality in Zürich geht jedenfalls zu Ende, der gesamte Forschungsbereich schließt nach zwölf Jahren meines Erachtens erfolgreicher Tätigkeit – leider, wie ich im Rückblick auf diese höchst anregende und fruchtbare Zeit sagen muss.

Im Moment schwebt mir ein Projekt über Nietzsche und die Bildende Kunst vor. Aber es ist noch nicht sicher, ob sich das mit universitärer Unterstützung realisieren lassen wird. Die Zukunft ist in diesem Sinne noch offen.

Das lyrische Schreiben war für mich das primäre, tief verwurzelte Schreiben.

Wie schwierig ist es, neben der ständigen wissenschaftlichen und theoretischen Beschäftigung mit Sprache, Literatur und Lyrik von anderen selbst noch poetisch kreativ zu sein?

Das war, merkwürdigerweise, nie eine Frage oder ein Problem für mich, da das lyrische Schreiben, mit dem ich als Schüler begann, das primäre, tief verwurzelte Schreiben war. Das andere, theoretische Schreiben begann erst viel später. Die Lyrik kommt vor der Prosa! Von daher kehre ich in der Lyrik immer wieder zu meinen Grundlagen zurück, ich wechsle das Register stets mit dem Gefühl, dass das Eine mit dem Anderen kaum etwas zu tun hat. Obwohl es schon auch hilfreich für das lyrische Schreiben ist, wenn man sich ein wenig in den entsprechenden Traditionen und Literaturen auskennt; diesen Hintergrund vermisse ich oft bei jüngeren Dichtern.

Natürlich kann es vorkommen, dass man durch die Wissenschaft tage- oder wochenlang ganz absorbiert ist und nur an dieses eine Thema denken kann. Aber gottseidank gibt es auch die anderen Zeiten. Und die genieße ich, auch wenn sie bekanntlich ein ›schwieriges Vergnügen‹ sind.

Lieber Ulrich J. Beil, ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit.

 
Christian Kiening / Ulrich Johannes Beil
Urszenen des Medialen

Von Moses zu Caligari
Wallstein Verlag, Würzburg 2012
366 Seiten, Hardcover
ISBN: 978-3-8353-1127-5

 

Franziska Röchter. Foto: Volker Derlath

Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.


Die »Internationale Jubiläumslesung mit 60 Poetinnen und Poeten« zur Premiere des 25. Jahrgangs von DAS GEDICHT (»Religion im Gedicht«) ist eine Veranstaltung von Anton G. Leitner Verlag | DAS GEDICHT in Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Mit Unterstützung der Stiftung Literaturhaus. Medienpartner: Bayern 2.

DAS GEDICHT Logo

 

Literaturhaus München


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert