Jubiläumsblog. Ein Vierteljahrhundert DAS GEDICHT
Folge 61: Matthias Kröner – Der Mensch hinter dem Dichter

Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.

Matthias Kröner, 1977 in Nürnberg geboren, lebt und arbeitet seit 2007 als Journalist, Redakteur, Kolumnist und Autor in der Nähe von Lübeck. Seine subjektiv verfassten Alternativreiseführer »Lübeck MM-City« und »Hamburg MM-City« (Michael Müller Verlag) sind Sparten-Bestseller. 2014 erschien sein viel beachteter Erzählband »Junger Hund. Ausbrüche und Revolten« (Stories & Friends Verlag). 2016 war er Finalist beim Irseer Pegasus und erhielt einen ITBAward (= Internationale Tourismus Börse) für die 3. Auflage von »Lübeck MMCity«.

Ende Oktober 2016 kam sein Mundartband »Dahamm und Anderswo« bei ars vivendi heraus. Kröner erhielt acht Auszeichnungen für Prosa, Lyrik und Journalistik. www.fair-gefischt.de

Als Reisebuchautor erlebt sich Matthias Kröner als Grenzgänger zwischen verschiedenen Zeiten. Geographisch betrachtet ist der Autor sowohl im Süden und im Norden »dahamm«. Mit Franziska Röchter sprach er über die Besonderheiten als Autor von Städteführern und seine kreative Entwicklung.

Kreativität kommt mit dem Interesse.

Lieber Matthias, mit dir verbindet man unweigerlich das Stichwort Reiseführer und den Michael Müller Verlag. Seit wann bist du für diesen Verlag tätig und wann ist bei dir überhaupt der Wunsch entstanden, Reiseführer zu schreiben?

Im Michael Müller Verlag arbeite ich seit sage und schreibe 18 Jahren. Als Student habe ich angefangen, damals im zweiten Semester, da führte der Verlag noch ein Nischendasein. Als Michael Müller dann (da war ich längst »ausgewandert« nach Lübeck) an mich herantrat und vorfühlte, ob ich nicht einen Reiseführer »zu diesem schönen Fleck« schreiben mag, war ich – zugegeben – nicht sofort Feuer und Flamme. Ich wollte lieber Gedichte bauen, Geschichten. Doch die Leidenschaft kam mit den ersten Sätzen – und ist bis heute geblieben. Denn die realen Geschichten sind zahlreich, in Städten wie in der Wirklichkeit.

Was war denn zuerst bei dir vorhanden: das Interesse an bestimmten Städten und die Lust, Menschen einen Weg durch diese Städte zu zeigen, oder das rein belletristische Schreiben?

Es begann lustigerweise mit Aphorismen. Ich wollte das literarische, belletristische Schreiben von Grund auf erlernen. Da gibt es einen ganz großen Wissensdurst in mir. Wobei ich mir damals schon dachte: Kreativität kommt mit dem Interesse, nicht mit dem Talent. Später kamen Gedichte hinzu, Kurzgeschichten, Erzählungen.

Wie viele Reiseführer hast du bislang geschrieben?

Zwei Reiseführer sind entstanden. Beide ›spielen‹ in meiner nordischen Wahlheimat, in Lübeck, in Hamburg. Beide sind absolute Herausforderungen, denn damit sie Dauerseller bleiben, unternehme ich zahlreiche Recherchetouren, die stets neue Erkenntnisse bringen. Die fließen dann in die Bücher, was wiederum heißt: Die ersten Auflagen kann man gar nicht mehr mit den jetzigen vergleichen. Beide Städte haben sich stark verändert.

Was ist das Besondere an den Reiseführern aus dem Michael Müller Verlag bzw. an deinen Reiseführern verglichen mit anderen Städteführern?

Ich hätte nie einen Reiseführer für Marco Polo oder andere Verlage geschrieben, die mehr oder weniger glatt gegelte Marketingtexte wollen. Das machen die Touriämter doch ohnehin schon. Ich wollte subjektiv herangehen, persönlich, wertend und kritisch. Das alles ist im Michael Müller Verlag explizit gewünscht. Dadurch sind diese ›Autorenbücher‹ auch unterhaltsam und werden das, was man ›ehrliche Reiseführer‹ nennen könnte.

Das Fränkische hört jeder, mit dem ich spreche.

Was hat dich so für Lübeck und Hamburg, für die ganze Ostseeküste eingenommen – schließlich kommst du ja ursprünglich aus Nürnberg, hast in Erlangen studiert, eigentlich müsste man ein bisschen das Fränkische bei dir heraushören? Es gibt ja schließlich auch noch andere schöne Städte und Metropolen.

Das Fränkische hört jeder, mit dem ich spreche. Eigentlich müsste deshalb in diesem Interview jedes »r« mit mindestens drei Buchstaben geschrrrieben werden. Denn ich rolle es mit Lust und mit Freude, das Rrrrrrr. Weil ich so oft während meiner Recherchen darauf angesprochen wurde, ist dann auch ein Mundartband entstanden, mitten in Norddeutschland – aff Fränkisch.

Aber zu deiner Frage: Meine Frau und ich wollten ans Meer ziehen – und uns diesen Wunsch nicht aus Angst versagen. So nahm ich die Verlagsarbeit mit, in den Norden. Geliebtes, gelobtes Homeoffice!
 

Matthias Kröner. Foto: Gabriele Kröner
Matthias Kröner. Foto: Gabriele Kröner

Du wohnst schon rund zehn Jahre in Lübeck. Übernimmt man da automatisch etwas von dem norddeutschen Sprachduktus, oder bist du immun dagegen?

Es wäre schade, wenn ich dagegen immun wäre. Ich würde sehr viel verpassen. Labskaus zähle ich zwar nach wie vor nicht zu meinen Leibspeisen, doch ein »Moin« geht mir inzwischen selbstverständlich über die Lippen. Ich werde deswegen nicht einmal komisch angeschaut … Trotzdem betrete ich manchmal noch eine Bäckerei und sage »Grüß Gott«. Seine Wurzeln darf man ja nicht verleugnen.

Wenn man die Norddeutschen komplett verwirren will, kann man den Satz auch variieren: »Grüß Godd, iich möcherd ä Bambercher.« Die Blicke sind jede Erklärung wert.

Du bist ein Grenzgänger, der die Gegenwart und die Vergangenheit auslotet.

Wie muss man sich die Arbeit und Recherche an einem Reisebuchprojekt vorstellen? Schickt dein Verlag dich auf seine Kosten herum, um die Gegend zu erkunden?

Es ist eine unglaublich zeitaufwendige, unfassbar anstrengende und absolut wunderbare Zeit, so ein Buch zu schreiben. Ich habe so viel über Geschichte und menschliche Geschichten gelernt wie nie zuvor. Du tauchst ein in diese Städte und schwebst zwischen den Zeiten. Du bist ein Grenzgänger, der die Gegenwart und die Vergangenheit auslotet. Irgendwann hast du die unterirdischen Bunker und die höchsten Türme gesehen und weißt, wo es die besten Fischbrötchen gibt, aber auch warum und wieso Hamburg und Lübeck heute so und nicht anders aussehen – und weshalb die Einheimischen genau diese liebenswerten Eigenheiten und Macken haben.

Dass man das alles auf eigene Kosten recherchiert und lediglich mit 8 Prozent am Ladenverkaufspreis (minus der 7 Prozent Mehrwertsteuer) beteiligt ist, bleibt die größte Gemeinheit der Buchbranche. Das liegt übrigens nicht am Verlag, sondern am Buchvertrieb.

Wie entsteht überhaupt der Wunsch, einen Reiseführer zu schreiben, obwohl es zu der gleichen Gegend, dem gleichen Land oder Ort schon unzählige Reiseführer aus anderen Verlagen gibt?

Zu Lübeck gab es tatsächlich keinen einzigen überregionalen Reiseführer, als ich 2011 am Start war. Da habe ich Neuland betreten.

Bei Hamburg hat es mich interessiert, stark zu testen, zu werten. Was lohnt sich nicht, was sollte man unbedingt sehen? Zumal die meisten Reisenden lediglich zwei Tage in Hamburg sind.

Reiseführer sind Verführer, Tippgeber und Dienstleister in einem.

Glaubst du, dass es auf lange Sicht noch Reiseführer in Printform geben wird? Schließlich können wir uns alle dank Google virtuell schon in viele andere Gegenden katapultieren, ja sogar Straßen abgehen?

Reiseführer – in welcher Form auch immer – haben, sofern sie gut gemacht sind, einen großen Vorteil. Sie sind Verführer, Tippgeber und Dienstleister in einem. Wer sich einmal durch die vielen kostenlosen Restaurantangebote im WeltWeitenWörtermeer gewühlt hat, wird es auch 2040 noch schätzen, wenn es jemanden gibt, der eine Vorauswahl trifft, eine authentische, selbst getestete. Klar, wenn Google seine Logarithmen so perfektioniert, dass einem das auf dich zugeschnittene ideale Lokal vorgeschlagen wird, möglicherweise sogar in Echtzeit, könnten sich Reiseführer erübrigen. Doch ob es soweit kommt und ob man das wirklich will, diese Bevormundungen, kann ich nicht entscheiden.

Zudem ein guter Reiseführer ja immer mehr kann: Er ist eine Art Allrounder über eine (Mini-)Metropole oder einen Landstrich. Hinter dieser konsequenten Akribie hinkt das Internet derzeit noch hinterher.

Welches ist dein persönliches Lieblings-Urlaubs- oder Reiseland? Und wo möchtest du unbedingt mal hin?

Wir haben zwei Kinder, einen Sieben- und einen Vierjährigen. Alle Orte, an denen es den beiden liebenswerten Wahnsinnigen gefällt und wo sie ihren Eltern einige freie Minuten und Stunden gönnen, sind großartige Plätze, Lieblingsplätze.

Was ich unbedingt einmal machen möchte, allerdings erst, wenn die Kinder groß sind: die Riesenmammutbäume im Sequoia-Nationalpark ansehen.

Was nimmst du auf jede Reise oder jeden Recherchetrip mit? Worauf kannst du gut verzichten?

Notizbücher, Stifte, Kamera und die ungebändigte Lust, etwas Neues kennenzulernen. Der Rest, sogar das Handy, ist verhandelbar.

Wann oder wodurch bist du auf die Idee gekommen, einen Gedichtband zum Thema Heimat zu machen (»Dahamm und Anderswo«, ars vivendi verlag, Cadolzburg 2016)?

Das war 2015, aufgrund der Flüchtlingswelle. Ich habe mich genau gefragt, was Heimat ist, was sie für andere sein kann, was sie für mich bedeutet. So musste ich einen Band in Mundart schreiben. Im Hochdeutschen wäre ich einer möglichen Antwort nicht näher gekommen.

Inspiration ist alles, was einen berührt.

Welche Dichter sind dir Inspiration?

Eine schwierige Frage, auf die es keine Antwort gibt. Denn Inspiration ist alles, was einen berührt, auch Kitsch kann Inspiration sein. Es gibt so viele Dichter, die ich schätze und deren Texte in meinem Kopf herumspuken, von Johann Christian Günther bis Charles Bukowski, von Gottfried Benn bis Jörg Fauser und weit weit darüber hinaus.

Welches ist dein persönliches Lieblingsgedicht aus eigener Feder?

Das wechselt, liebe Franziska. Das kennst du sicher von deinen eigenen Texten. Momentan ist mir dieser Text der naheste:
 

Dir gehört ja nichts

Dir gehört ja nichts, gar nichts.
Dir gehört nicht das Haus,
für das du dich bei einer Bank verschuldet hast.
Dir gehören auch nicht die Schulden,
dir gehört nicht der Grund,
nicht die Erde, die kompostiert auf die Aussaat wartet,
nicht der Rasen, der nur von dir geschoren wird,
am wenigsten gehört dir die Frau,
die du liebst.
Die Politiker, die du wählst,
meinen, dass du ihnen gehörst.
Dir gehört kein Regal, keine Kiste,
kein Lebensentwurf, kein Erfolg.
Dir gehört nicht das Zimmer, in dem du wohnst.
Keine einzige Zeile,
kein Wort.
Niemand kann daran etwas ändern.
Nicht einmal der Ausblick aus deinem Fenster
gehört dir.
 

Deine Audio-CD »Der Trichter und sein Henker« hast du 2009 im damaligen Wunderwald Verlag veröffentlicht. Worum ging es darin?

Ich wollte ein Hörbuch machen und ich hatte eine Idee zu einem heute unbekannten Dichter: Georg Philipp Harsdörffer. Ich habe mich gefragt, ob sich diese einst so berühmten Autoren im Jenseits darüber ärgern, dass sie heute nicht mehr gelesen werden. Also reinkarnierte Harsdörffer in einem Bankangestellten, der fortan Gedichte verfassen musste … Das führte zu absonderlichen Situationen …

Sprache fließt, auch das Leben tut das, gut so.

Du bist ja auch Mitglied des »Pegnesischen Blumenordens«. Was genau macht dieser »Orden«?

Diese Mitgliedschaft wurde mir angeboten – und ich habe sie angenommen. Es geht um Sprachpflege, wobei damit ein guter Stil gemeint ist, ein Stil, der ein Thema konsequent kleidet. Das darf auch mit Umgangssprache geschehen, mit Englisch. Ich bin keiner, der behauptet, man müsse die deutsche Sprache hochheben und von »ausländischen Wörtern« befreien. Was ist das überhaupt, ein fremdes Wort? Sprache fließt, auch das Leben tut das, gut so.

Lieber Matthias, ganz herzlichen Dank für dieses fränkisch-freie Interview.

 
Matthias Kröner: »Dahamm und Anderswo«Matthias Kröner
Dahamm und Anderswo

Gedichte
ars vivendi, Cadolzburg 2016
Hardcover, 110 Seiten
ISBN 978-3-86913-740-7

 
Matthias Kröner nimmt an der Jubiläums-Lesung am 18.11.2017 in Schleswig teil.

 

Franziska Röchter. Foto: Volker Derlath

Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.


Die »Internationale Jubiläumslesung mit 60 Poetinnen und Poeten« zur Premiere des 25. Jahrgangs von DAS GEDICHT (»Religion im Gedicht«) ist eine Veranstaltung von Anton G. Leitner Verlag | DAS GEDICHT in Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Mit Unterstützung der Stiftung Literaturhaus. Medienpartner: Bayern 2.

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