Lockdown-Lyrik 98: »pandemieokular« von Lea Matusiak

»Lockdown-Lyrik! Quarantäne querdenken – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« ist eine Online-Sammlung von Gedichten, die sich mit der Corona-Krise befassen. Es darf uns die Sprache nicht verschlagen! In loser Folge erscheinen neue Episoden der von Alex Dreppec, Jan-Eike Hornauer und Fritz Deppert herausgegebenen Anthologie.

 

Lea Matusiak

pandemieokular

vom vorübergehn der tage
müd geworden die linse
trüb geworden sieht
einfältiges immer zuerst sieht
unterschiedlich rüber an die
immergleiche stelle
wie man den menschen botanisiert
und mobiliar pasteurisiert

winsle rühre tiger mähe
übers pvc parkett brett weich
herum mal morgens mal abends
mal versperrt mal bekehrt mal verkehrt
herum mal morgens mal abends
nett wäre ein abendessen zu viert oder
zu siebt oder ein harfenkonzert
mit allen

in erinnerung an urtümliche horden
warten wir bis da gras drüber wächst
bis godot kommt und sieht und siegt
und der mond sich helle helle schiebt bis
runzeln unsre mimik ersetzen
wachen vor dem abend nicht mehr auf
unser fenster licht glas unsere lampe
unser schweres lid packt ein

 
© Lea Matusiak, Darmstadt

 

 

Zu dieser Reihe: »Lockdown-Lyrik! Quarantäne querdenken – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« ist eine Online-Sammlung zu den aktuellen Auswirkungen der Corona-Krise. Wir wollen im Gespräch bleiben, während wir Infektionsketten unterbrechen. Wir wollen die Erfahrung der Vereinzelung miteinander teilen. Wir wollen virtuelle Brücken bauen. Wir wollen das tun, was wir können: dichten, die Welt – und auch die aktuelle Situation – poetisch erfassen.Unser Anliegen ist es in jedem Fall, zu einem Mehr an Besonnenheit beizutragen, zu versöhnen statt zu spalten. Mit Sorge sehen wir überharte Diskussionen, wie sie derzeit online, aber auch offline zu häufig geführt werden. Klar ist uns: Es gehört zu einer Demokratie dazu, Konflikte auszutragen. Aber wir insistieren auch hierauf: Es ist ebenso unerlässlich, sich des Gemeinsamen, Verbindenden bewusst zu sein und zu werden sowie respektvoll miteinander umzugehen.

Uns ist bewusst, dass bereits der Ansatz, zur Corona-Pandemie eine Lyrik-Online-Anthologie herauszugeben, ihre Auswirkungen zeitnah lyrisch zu behandeln, und dies aus verschiedenen Perspektiven sowie in unterschiedlichen Tonlagen, als Provokation aufgefasst werden kann. So ist diese Sammlung keineswegs gemeint. Ihr Thema an sich ist jedoch eben hochemotional besetzt. Für uns, die Herausgeber der Reihe, bleibt trotzdem und gerade deshalb wichtig: Wir wollen Brücken bauen, Perspektiven weiten, der ungewohnten Situation mit poetischen Mitteln und im gemeinschaftlichen Sinne begegnen.

Bleiben Sie gesund!

Alex Dreppec, Jan-Eike Hornauer, Fritz Deppert
 
PS: Alle bereits geposteten Folgen von »Lockdown-Lyrik! Quarantäne querdenken – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« finden Sie hier. In loser, jedoch zügiger Folge wird die Sammlung erweitert.

 

Ein Kommentar

  1. Quarantäne

    Mit gelben Jammer gefangen
    Und voll mit trüben Gedanken
    Die Freiheit mir genommen,
    Ihr lähmt die bittere Angst,
    Und trunken bin ich vor Langsamkeit
    Im stillen Rückwärts des Lebens
    Das Licht so lau und diesig.

    Weh mir, wo nehm ich, wenn
    Die Katharsis und Beklemmung, und wo
    Die Lebensfreude,
    Und das Lachen der Kinder?
    Die Ahnung von Schein und Schatten
    Sprachlos und kalt, im Winde
    Verstummen die Farben.

    Angelehnt an Friedrich Hölderlins
    „Hälfte des Lebens“

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