Lyrik rettet den Montag – Folge 1: Östliches Taglied

Der Montag ist der unbeliebteste Tag der Woche. Für die meisten Deutschen zumindest. Der Montagsblues ist viel besungen und beschrieben – und tatsächlich kommen viele am Montag noch schlechter aus dem Bett als an anderen Tagen. Montags gibt’s die meisten Krankmeldungen, Unfälle und Herzinfarkte, sogar E-Mails sollen montags mehr Schreibfehler enthalten. Höchste Zeit also, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Zwölf Wochen lang möchte DAS GEDICHT blog den Montag verschönern – mit Lyrik morgens um sieben. Zwölf Gedichte rund um Freude und Leid am Morgen, ausgewählt und gesprochen von Sandra Blume, sollen das Aufstehenmüssen versüßen.
Einfach noch einmal kurz ins Kissen lehnen, die Augen schließen und mit einem Gedicht die Sonne aufgehen lassen.

 

Sandra Blume liest: »Östliches Taglied« von Rainer Maria Rilke


 

Rainer Maria Rilke

Östliches Taglied

Ist dieses Bette nicht wie eine Küste,
ein Küstenstreifen nur, darauf wir liegen?
Nichts ist gewiss als deine hohen Brüste,
die mein Gefühl in Schwindeln überstiegen.

Denn diese Nacht, in der so vieles schrie,
in der sich Tiere rufen und zerreißen,
ist sie uns nicht entsetzlich fremd? Und wie:
was draußen langsam anhebt, Tag geheißen,

ist das uns denn verständlicher als sie?

Man müsste so sich ineinanderlegen
wie Blütenblätter um die Staubgefäße:
so sehr ist überall das Ungemäße
und häuft sich an und stürzt sich uns entgegen.

Doch während wir uns aneinanderdrücken,
um nicht zu sehen, wie es ringsum naht,
kann es aus dir, kann es aus mir sich zücken:
denn unsre Seelen leben von Verrat.
 

Rainer Maria Rilke (1875–1926)

 

Sandra Blume. Foto: Yvonne Bartsch
Sandra Blume. Foto: Yvonne Bartsch
Sandra Blume (Jahrgang 1976) hat Geschichte, Kulturwissenschaften und Journalistik studiert. Sie arbeitet seit 2005 als freie Texterin, PR-Beraterin und Theaterdramaturgin. Seit 2013 ist sie Pressesprecherin des Wartburgkreises in Thüringen. Sie hat bei zahlreichen Lese-, Radio- und Theaterveranstaltungen mit einer »lyrischen Zärtlichkeit des Lauschens und Staunens« dem Publikum so manches Gedicht neu eröffnet.

Eigene lyrische Texte und Fotografien veröffentlicht sie seit 2016, insbesondere auf ihrem Blog www.herzhuepfen.com sowie unter ihrem Namen auf facebook. Im Münchner Schillo Verlag sind aktuell zwanzig ihrer Gedichte in einer Anthologie erschienen.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Lyrik rettet den Montag« finden Sie hier.

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