Poesie. Meditationen – Folge 4: Annäherungen an das Erlebnis des Beieinanderseins, Miteinanderseins, Füreinanderseins, Durcheinanderseins

In den »Poesie. Meditationen« treffen Sie Timo Brandt: Der junge Lyriker und Lyrik-Kritiker (Jahrgang 1992) lässt Sie teilhaben an seinem ganz persönlichen Zugang zur Lyrik: Bei der Lektüre von Gedichten fließen Eindrücke zum Tagesgeschehen und poetische Impressionen zusammen. Der Leser begibt sich in einen beinahe meditativen Zustand, ganz im Hier und Jetzt und achtsam gegenüber den Phänomenen im gegenwärtigen Augenblick. Der Verknüpfung von Gedicht und Gedankenfluss geht Brandts Kolumne nach.

 

Im Gegensatz zur Poesie fasert die Wirklichkeit aus. Menschen durchqueren Landschaften und Gefühle, Atmosphären und Segmente des Denkens, und die Poesie kann ihnen erneut offenbaren, zu welchem Zeitpunkt sie Landschaften wirklich gesehen, wirklich in sich aufgenommen haben. Sie kann auf die Punkte pochen, an denen eine Erfahrung zu einer wiederkehrenden Erkenntnis wurde, zu einem wiederkehrenden Eindruck. Doch die Wirklichkeit franst aus, immerzu.

In der Liebe besteht gleichsam die größte Diskrepanz und die größte Nähe zwischen poetischer Einheit und lebenswirklichem, uneingefasstem Zerfasern. Man kann immer wieder ansetzen und mit den glatten Fäden der Schrift neue Muster und Ränder und Flicken ans/ins Leben stricken: es macht die Verheißung der Liebe immer wieder unendlich und doch leiert das Ganze, getragen, auch sofort wieder aus, Zeiten und Widerstände wachsen, die Muster erscheinen gewöhnlich; man spricht davon, dass alles, was in Schönheit auftritt, seine Hässlichkeit offenbaren muss, der mehr Gewicht zufällt, weil sie nicht einfach erschien, sondern festgestellt wurde.

All dieses Anlassen, um vom wichtigsten Buch meines Lebens zu reden. Eines unter vielen und doch das wichtigste, weil wiedergelesen und wieder: beschlagen, beflossen, beeindruckt; vernommen und verliebt, verworren: Die »Birthday Letters«, Gedichte von Ted Hughes an und über seine tote Frau Sylvia Plath.

Schuld und Wahn und Vergeblichkeit: Zeiger der Liebe, die die schönsten Stunden überschreiten. In dem, was die Liebe ausmacht, liegt auch die große Angst vor der Freiheit eines anderen Menschen, vor dem Desaster des Ich, als ein Fluss der Ungewissheit, der alles mit sich zieht, verfließen lässt, voller Schein.

Ted Hughes schreibt über die Momente einer Liebe, über das Auseinanderklaffen und Ineinanderwachsen zweier Menschen. Eine lyrische Auffassungsgabe durchzieht alle Gedichte; Gedichte, die erzählen, die Beschwörungen und Geschichten zugleich sind. Sie verstehen sich nicht als Offenbarungen, mehr als Schilderungen, Beschreibungen, aber auf der kleinsten Ebene werden sie dazu. Hier soll nichts virtuos umschifft werden – hier ist jedes Wort gesetzt, um Erlebnisnähe, eine tiefergehende Abbildung von jeder Nuance einer Situation zu transportieren. Hier will das gesagt werden, was bewahrt werden konnte, von der Sprache wiederbelebt in eine Vorstellungsdichte, die für mich über Jahre hinweg eines der großen Beispiele für Poesie geblieben ist.

Wenn das Gelingen nicht enden darf, dann sind wir alle Versager; das Menschliche liegt im Unbeholfenen, Hughes lyrische Momente und Einfassungen leiten es wie Metall Strom leitet. Gesten der Liebe und das Zusammenwirken jener Dinge, die das Glück ergeben, all das ist selten souverän – wobei … sind das Unbeholfene und das Souveräne ein Gegensatz? Meistert man die Liebe nun in der Zuneigung oder in der Tatkraft?

Hughes 88 Gedichte betrachten von außen und plötzlich aus den Fingerspitzen, Pupillen heraus, was gelebt wurde, was passierte, ein profanes und doch unabweisbares, großartiges Nachspüren der Gestaltung eines »Wir«, des Scheiterns, des Am-Leben-seins, in jeder Zeile.
 

Timo Brandt
Timo Brandt

Die »Poesie. Meditationen« werden Ihnen von Timo Brandt (Jahrgang 1992) präsentiert. Er studiert derzeit an der Universität für angewandte Kunst in Wien, am Institut für Sprachkunst. Er schreibt Lyrik und Essays, außerdem veröffentlicht er Literatur-Rezensionen auf seinem Blog lyrikpoemversgedicht.wordpress.com, Babelsprech.org und Amazon. 2013 war er Preisträger beim Treffen junger Autoren.

Alle bereits erschienenen Folgen der »Poesie. Meditationen« finden Sie hier.

Ein Kommentar

  1. Zitat von Timo Brandt:
    “Im Gegensatz zur Poesie fasert die Wirklichkeit aus. Menschen durchqueren Landschaften und Gefühle, Atmosphären und Segmente des Denkens, und die Poesie kann ihnen erneut offenbaren, zu welchem Zeitpunkt sie Landschaften wirklich gesehen, wirklich in sich aufgenommen haben. Sie kann auf die Punkte pochen, an denen eine Erfahrung zu einer wiederkehrenden Erkenntnis wurde, zu einem wiederkehrenden Eindruck. Doch die Wirklichkeit franst aus, immerzu.”

    Vielleicht bietet die Poesie selbst, in Form eines Gedichtes, eine besondere Bekräftigung der Aussage im obigen Zitat:

    Morgenrot

    Wie das Marmorlächeln eines Engelmunds –
    von breiten Händen modelliert –
    prangt hohen Himmels, in früher Morgenstund,
    ein sanftes Rot, das sich verliert,

    wie sich flüchtig unsre Ahnungen verlieren –
    Augenblicke kurz beleuchtend:
    Manchmal möchten sie sich bleibend zelebrieren,
    stille Offenbarung deutend.

    Es liegt nun schon einige Zeit zurück, dass ich Gedichte von Ted Hughes um seine große Liebe gelesen habe; das Lebendigsein von Kampf, Zerrüttung, all das eingebettet in eine immerwährende Hoffnung, ist mir in Erinnerung geblieben. – Vielleicht bietet die Poesie, als ein Gesang der Seele, noch die größten Möglichkeiten Nähen zu schaffen, zu jenem was wir nicht sagen können, was sich uns in der Sprache weitgehend entzieht: das grandiose Spiel von Liebe und Vergang.
    Timo Brandt hat mit seinem Beitrag Möglichkeiten ausgeschöpft, etwas davon zu sagen, das am noch Sagbaren grenzt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert