Reisepoesie Folge 14: Gertrud Kolmar │aus »Westindien«

In 21 Folgen stellt die Online-Redaktion der Zeitschrift DAS GEDICHT internationale Reisepoesie aus vier Jahrtausenden vor. So können Sie sich gemeinsam mit uns auf den Weg zur neuen Ausgabe von DAS GEDICHT begeben. Die buchstarke Nummer 21 wird ab Herbst 2013 zeitgenössische Gedichte versammeln, die ums Reisen kreisen.

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http://youtu.be/0SDWZQtLlzI

Gertrud Kolmar
aus »Westindien«

Die Welt ist braune und weiße Erde;
Komm, wir teilen die Welt!
Nimm den Westen hin, dass ich Osten werde
Und felsig aufbreche, du Feld.

In meinem Becher von Jade will
Seltsam kostbare Freuden ich finden,
Die Freuden aus Hyazinth und Beryll
Um meine Hüften winden,

Die Aprikose chinesischer Seide
Mit pflaumendunkeln, sehr weichen Schuhn
Und den Bienenstachel in flimmernder Scheide,
Einen kleinen Dolch, zu mir tun.

Ich lass an der Mauer, die steinern liegt,
Blicke wie Blumen ranken,
Über den Weg, der in Wüste versiegt,
Und in des Mannes Gedanken…

Und so erwächst mit den Tagen die Beere,
Schlafende Frucht, das singende Land.
Westindien! Spielkind jenseits der Meere
Mit Eimern voll goldenem Sand!

Über Gertrud Kolmar

Im Gedicht »Westindien« der jüdischen Schriftstellerin Gertrud Kolmar (1894–1943) finden wir ein Spiel der Imagination mit dem Elementaren, das verklärte Ferne und die materielle Sinnlichkeit: Jade, Beryll, Hüften, Aprikosen, Bienen, Blumen, die Wüste, das spielende Kind und die Meere. Und gleichzeitig schwebt im Duktus der gebürtigen Charlottenburgerin eine andere Wirklichkeit mit. Es ist der Gestus der Naturmystik – vielleicht.

An Kolmars Biographie lassen sich die furchtbaren Geschehnisse der deutschen Geschichte des Dritten Reichs ablesen: Zensur, Enteignung, Entrechtung, Zwangsarbeit, Deportation und schließlich Ermordung im KZ Auschwitz, deren trauriger Jahrestag sich im März 2013 zum siebzigsten Mal wiederholte. Ein Schicksal, dass sie mit zahlreichen prominenten und namenlosen Juden in Deutschland teilte.

Die Lyrik von Gertrud Kolmar ist ein Ausdruck der Befreiung und hat, was viele Texte deutlich zeigen, einen frühemanzipatorischen Zug. Sie dokumentieren die Neubestimmung des Weiblichen auf eindrucksvolle Weise. Zu ihren Motiven gehören etwa die Gedeihlichkeit, die Selbstfindung, das Fernersehnten und immerfort auch das augenzwinkernde Spiel zwischen den Geschlechtern wie hier: »Und den Bienenstachel in flimmernder Scheide, / Einen kleinen Dolch, zu mir tun.«

Diese Auswahl von Reisegedichten aus vier Jahrtausenden wird Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Zuletzt erschien »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Im Herbst erscheint »Am Ende der Zeilen. Gedichte.«

Mehr Reisegedichte erwarten Sie in DAS GEDICHT 21 (erscheint im Oktober 2013).

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