Reisepoesie Folge 18: Clemens Brentano │ aus »Der Jäger an den Hirten«

In 21 Folgen stellt die Online-Redaktion der Zeitschrift DAS GEDICHT internationale Reisepoesie aus vier Jahrtausenden vor. So können Sie sich gemeinsam mit uns auf den Weg zur neuen Ausgabe von DAS GEDICHT begeben. Die buchstarke Nummer 21 wird ab Herbst 2013 zeitgenössische Gedichte versammeln, die ums Reisen kreisen.

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http://youtu.be/aljVp2lPGNQ

Clemens Brentano
aus »Der Jäger an den Hirten«

Durch den Wald mit raschen Schritten
Trage ich die Laute hin,
Freude singt, was Leid gelitten,
Schweres Herz hat leichten Sinn.

[…]

Aber ich muss fort nach Thule,
Suchen auf des Meeres Grund
Einen Becher, meine Buhle
Trinkt sich nur aus ihm gesund.

Wo die Schätze sind begraben
Weiß ich längst, Geduld, Geduld,
Alle Schätze werd’ ich haben
Zu bezahlen alle Schuld.

Während ich dies Lied gesungen,
Nahet sich des Waldes Rand,
Aus des Laubes Dämmerungen
Trete ich ins offne Land.

Aus den Eichen zu den Myrten,
Aus der Laube in das Zelt,
Hat der Jäger sich dem Hirten,
Flöte sich dem Horn gesellt.

Dass du leicht die Lämmer hütest
Zähm’ ich dir des Wolfes Wut,
Weil du fromm die Hände bietest,
Werd’ ich deines Herdes Glut.

Und willst du die Arme schlingen
Um dein Liebchen zwei und zwei,
Will ich dir den Fels schon zwingen,
Dass er eine Laube sei.

Du kannst Kränze schlingen, singen,
Schnitzen, spitzen Pfeile süß,
Ich kann ringen, klingen, schwingen
Schlank und blank den Jägerspieß.

Gib die Pfeile, nimm den Bogen,
Mir ist’s Ernst und dir ist’s Scherz,
Hab’ die Sehne ich gezogen
Du gezielt, so trifft’s ins Herz.

(aus: Stieg, Reinhold; Grimm, Hermann (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Bd. 1. Stuttgart 1894 S. 100f.)

Über Clemens Brentano

Mit Clemens Wenzeslaus Brentano de La Roche (1778–1842) begegnen wir einem Vertreter der deutschen Hochromantik. Zusammen mit anderen Vertretern der sogenannten Heidelberger Romantik, wie etwa die Gebrüder Grimm oder Brentanos Freund Achim von Arnim, erweckte diese Strömung in der (bürgerlichen) Dichtung ein neues Interesse an der Volksdichtung, wie etwa die Sammlungen der Brüder Grimm oder »Des Knaben Wunderhorn« verdeutlichen. Diese Lesart der Romantik ist aber nur eine Facette und vermutlich die langweiligste.

Das 1803 entstandene Langgedicht »Der Jäger an den Hirten« ist ein wundervolles Beispiel narrativer Lyrik vor der New York School. Es kommt als ein schlichtes Zwiegespräch im bukolischen Gestus daher. »Der Jäger an den Hirten« ist aber keineswegs ein Idyll oder eine seltsame Ballade wie sie Brentano und von Arnim am Rhein und in Franken hunderte Male dem Volksmund abgeschrieben hatten. An »Der Jäger an den Hirten« lässt sich die eigentliche Klassizität der Romantik erkennen, ihre konkrete Abstraktheit und ihre realistische Artifizialität – nicht also das Volkstümliche, sondern eine retroutopische Projektion des klassischen Geists. Der Geist Griechenlands und Roms allerdings ist nicht die maßgebende, normative Instanz, sondern er ist zu einer spirituellen Idee geworden – z. B. zur Fiktion des Ursprünglichen. Die Romantiker waren ja keine Ethnologen, die von primitiven Märchen entzückt durch den Odenwald oder den Mittelrhein zogen, sondern zuallererst der skripturalen Kultur des Bürgertums verpflichtet – daher empfiehlt sich bei romantischer Dichtung oder Musik auch eine Parallellektüre von z. B. Johann Heinrich Voß, Franz Bopp, William Jones und Friedrich Creuzer.

Diese Auswahl von Reisegedichten aus vier Jahrtausenden wird Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Zuletzt erschien »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Im Herbst erscheint »Am Ende der Zeilen. Gedichte.«

Mehr Reisegedichte erwarten Sie in DAS GEDICHT 21 (erscheint im Oktober 2013).

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