Reisepoesie Folge 8:
August Stramm │»Wunder«

In 21 Folgen stellt die Online-Redaktion der Zeitschrift DAS GEDICHT internationale Reisepoesie aus vier Jahrtausenden vor. So können Sie sich gemeinsam mit uns auf den Weg zur neuen Ausgabe von DAS GEDICHT begeben. Die buchstarke Nummer 21 wird ab Herbst 2013 zeitgenössische Gedichte versammeln, die ums Reisen kreisen.

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http://youtu.be/QIxw3xcDvGo

August Stramm
»Wunder«

Du steht! Du steht!
Und ich
Und ich
Ich winge
Raumlos zeitlos wäglos!
Du steht! Du steht!
Und
Rasen bäret mich
Ich
Bär mich selber!
Du!
Du!
Du bannt die Zeit
Du bogt der Kreis
Du seelt der Geist
Du blickt der Blick
Du
Kreist die Welt
Die Welt
Die Welt!
Ich
Kreis das All!
Und du
Und du
Du
Stehst
Das
Wunder!

(aus Der Sturm. Nr. 15/16 vom 01.11.1914, S. 106f.)

Über August Stramm

Wer bei Wikipedia nachsieht, wird erfahren, dass der Expressionist August Stramm (1874 – 1915) an der Universität Halle an der Saale zum Thema »Welteinheitsporto« anno 1910 promoviert wurde. Das Thema hat aber Stramm offenbar nicht zum Weltenwanderer gemacht, sondern zum wilhelminischen Postinspektor. Außer im Krieg reist der gebürtige Münsteraner kaum. Durch sein Werk jedoch wird der Urvater des expressionistischen Gestus die Poesie auf eine wilde Pionierfahrt schicken – hin zum »Urwort,« jener von Ernst Cassirer mystifizierten Verschmelzung von Semiotik und Rhythmik. So wird das Gedicht selbst plötzlich zu seiner eigenen Odyssee, nicht mehr Dokument oder Souvenir irgendeiner Erfahrung, sondern eine Reise des Wortes selbst.

Was jedoch die touristischen Ausflüge der Lyriker in die Welt der Sprachphilosophie betrifft, sollte man nicht vergessen, dass in jedem Expressionisten auch ein Stubenhocker steckte, ein gutfrankierter Postinspektor eben. August Stramm konnte, neben seiner Lyrik , auch niedliche Sätze wie diesen schreiben: »Am Eingang des Hafens von New York unweit der Kolossalstatue der Freiheit erhebt sich der gewaltige Bau des Einwanderungsdepots auf einer kleinen Felseninsel, die den poetischen Namen Elli’s Island führt.« (aus seinem Aufsatz »Auswanderer!«) Vielleicht steckte in dem braven Postbeamten August Stramm doch ein Weltenwanderer, insgeheim.

Diese Auswahl von Reisegedichten aus vier Jahrtausenden wird Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Zuletzt erschien »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Im Herbst erscheint »Am Ende der Zeilen. Gedichte.«

Mehr Reisegedichte erwarten Sie in DAS GEDICHT 21 (erscheint im Oktober 2013).

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