»Druckkammern« Max Czollek

rezensiert von Paul-Henri Campbell

Max Czollek »Druckkammern«Max Czollek »Druckkammern«

Sein Debütband heißt »Druckkammern« (2012) und das Verlagshaus J. Frank (Berlin) wird sich noch lange auf die Schultern klopfen können, diesen bemerkenswerten Dichter entdeckt zu haben. Max Czollek ist 1987 in Berlin geboren und begründete das Kollektiv G13 mit. Ich möchte die »Druckkammern« in drei Leserichtungen diskutieren: 1) das Gedicht als Druckkammer?; 2) Stilbrüche; 3) Herkünftigkeitsdialoge.

Das Gedicht als Druckkammer

Ist das Gedicht als Druckkammer möglich? Ein Instrument, das man dazu einsetzt, die Druckverhältnisse zwischen Innen und Außen, zwischen Heute und Gestern, zwischen Ich und Du auszugleichen. Nun ist, spätestens seit der frühen Frankfurter Schule, immer wieder unterstrichen worden, dass Gedichte keine Parteigänger der instrumentellen Vernunft sind: Sie sind, um einer ideologischen Vereinnahmung zu entgehen, Dokumente des Uneindeutigen. Vielleicht sind daher Max Czolleks Druckkammern keine gemütlichen Ausgleichsinstrumente, sondern Zeugnisse der Polysemie des Wirklichen. Etwa im Gedicht »dann ist es november«:

»man findet uns im stadtpark / pappbecher voll filterkaffee / im hut den wechsel der passanten […] züge passieren die atmung / gedankenstriche für etwas / dessen bedeutung wir bis auf weiteres / auf kalte bänke schieben«

Der narrative Modus ist zurückgenommen. Er bindet fast nur die letzten drei Verse. Das Subjekt ist zwar plural (»uns« / »wir«) ist aber durch das »man« abgeschwächt bzw. neutralisiert. Ist das Gedicht die Stimme der Pappbecher, also anthropomorphisch? Sind jene, die das, was sie notieren, solche, die alles nur in »einfacher referenz« verankern—Geschäftsleute beispielsweise, die das Leben »auf kalte bänke schieben« oder sind es Verirrte und Verlorene, die den »schwalbenflügen« nachsinnen, nicht aber augenblicklich im Stande sind, die »punkte am wegrand« zu verbinden? Das Gedicht erzeugt eine Strichfassung einer komplexen Wahrnehmungssituation, ohne diese endgültig zu bestimmen. Das Arrangement schafft durch minimalgehaltene semantische Stimuli einen maximalen interpretatorischen Resonanzraum für den Leser.

In dem Gedicht »malbuch« heißt es einige Seiten später: »auf gartenflächen / kauern denker mit / mutterbrustkomplex // im zwischenraum / mülltonnen connect / the dots stehen // wir nach zahlen / gereihte körper / im kegellicht // […]«. Max Czollek generiert Gebilde, die deshalb so suggestiv sind, weil sie durch eine thematisch angelegte Narrativik und Fragmentarisierung dessen, was die Verse in ihrer Reihung jeweils für sich zum Ausdruck bringen[1], maßvoll und gekonnt oszilliert. Man hat niemals den Eindruck, ein Gedicht sei hermetisch oder privatistisch oder unzugänglich, sondern nimmt immer den Schatten eines Sujets wahr, das man beim Verbinden der gesetzten Punkte konstruiert. Das poetische Konzept thematisiert Czolleck en passant: »im zwischenraum / mülltonnen connect / the dots stehen«. Was es sympathisch macht, ist die Metapher (?) der »mülltonnen«, die ich ironisch lese, obgleich natürlich auch aufgrund der Knappheit des sprachlichen Materials man sie auch programmatisch lesen könnte: Verbinde die Punkte, die zwischen dem Wahrnehmungsmüll funkeln und Bedeutung für dich sein wollen! Oder so ähnlich.

Auch das Zitat von Bob Dylans »Brownsville Girl« (Knocked out Loaded, 1986), das dem Kapitel vorangeht, lässt sich als intentionale Justierung lesen: »Something about that movie though, well I just can’t get it out of my head / But I can’t remember why I was in it or what part I was supposed to play«. Als seien die Gedichte Residuen von Situationen, in denen wir irgendwie verstrickt sind, aber nicht erklären können, wieso und weshalb. Dieser Eindruck bleibt oft nach der Lektüre etwa in den letzten beiden Strophe von »bugs bunny«: »wenn jemand dich bittet / körper zu identifizieren / die du mal geliebt hast // rennst über eine klippe / und fällst immer erst / wenn du den fehler bemerkst«. Das »Du« des Subjekts dominiert in der ersten zitierten Strophe, verschwindet aber in der ersten Zeile der zweiten Strophe. Der syntaktische Bruch, denke ich, erweitert die Dramatik: »rennst über die klippe« ist plötzlich allgemeiner geworden und dann: das tragische zu spät (»und fällst immer erst / wenn du den fehler bemerkst«). Die zuspätkommende Einsicht der Tragödie ist aber ironisch gebrochen durch die thematische Verortung des Gedichts in der Welt des Comics, sodass das Gedicht eine existenzialistische Wende macht zum Absurden. Der hohe Ton der Texte ist daher durch das schalkhafte Augenzwinkern des Witzes[2], was in der kolossalen Humorlosigkeit der deutschen Lyrik erfrischend ist. Einfach stark.

Auch seine lyrischen Reaktionen auf die Stadt sind nicht durchsetzt von der provinziellen Hommage an den »urbanen Raum«, sondern sind immer gebrochen entweder durch ihre Situierung wie im Gedicht »vorstadt cabinet«[3] oder Übermalungen wie im Gedicht zu Haifa (»המושבה הגרמנית«), das ich weiter unten noch besprechen möchte.

Die Druckkammern von Czollek sind atmosphärische Achterbahnen. Es ist von einem Vers zum nächsten unklar, welche Druckverhältnisse vorherrschen. Bei leichten Themen wie Liebe ist dieses Verfahren interessant – wie produktiv es aber sein kann merkt man aber, sooft sich Czollek ernsten Themen zuwendet, sehr ernsten.

Stilbrüche

Es gibt auch Texte die von der dominanten poetischen Strategie abweichen und narrativer sind. Beispielsweise findet sich in dem Gedicht »brücke über die drina« eine Narrativik, die zunächst das Tempo und die Poetizität der Stimme erhöht, aber schnell in ihrer analogischen und metaphorischen Anlage die Sprache öffnet und vom protokollarischen Duktus fortbewegt: »auf einer fahrt ist es / herbst geworden / in wischegrad […] // hol die saat ein // wer jetzt allein ist / weckt erinnerung / in gläser ein dreht wachs / um isolationsdrähte / an den bäumen die granatäpfel / leuchtende kinderfäuste«. Die Reflexion, die das Gedicht auf sein anamnetisches Moment betreibt (»weckt erinnerung«) ist in einer motivischen Wende aufgelöst, die mir typisch scheint für Poesie nach der kulturalistischen Wende in den Geisteswissenschaften. Die Ernte lässt sich konservieren; sie ist aber auch Erinnerung an die Saat, die darin sterbend aufgeht, sodass die »einschüsse« und »kreuze« vor dem Hintergrund des voran- und weitergehenden Lebens (»an den bäumen die granatäpfel / leuchtende kinderfäuste«) erinnert werden. Die imperativisch formulierte und alleingestellte Zeile »hol die saat ein« wird, denke ich, dann zum Gegenpol der »isolationsdrähte«. Es ist bemerkenswert, wie gut dieses Gedicht funktionieren würde, auch wenn der verortende Titel »brücke über die drina« getilgt werden würde.[4]

Herkünftigkeitsdialoge

Als ein in (ost)deutschland geborener und in Berlin aufgewachsener Jude ist freilich die geschichtsphilosophische Position der Stimme, die zum lyrischen Gebrauch kommt, anders gelagert als für nichtjüdische Deutsche. Die Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität und Geschichte innerhalb dieses spezifischen Kontexts führt Max Czollek in einer reflexiven Virtuosität aus, die mich beunruhigt und zugleich erfreut. Er nimmt die Traditionslinie des apokalyptischen Messianismus auf und stellt einem Kapitel des Bandes folgendes Zitat aus dem »Babylonischen Talmud« voran: »Wenn dieses Tor einstürzen, und wieder errichtet werden, einstürzen und wieder errichtet werden wird, und bevor man noch dazu kommen wird, es wieder zu errichten, wird der Sohn Davids kommen«.[5] Die Perspektive ist bemerkenswert, weil sie in einem Topos fundiert ist, der für den christlich-jüdischen Dialog der Nachkriegszeit (nicht immer erfolgreich) zentral ist, nämlich der Perspektive einer zukunftsorientierten Hoffnung im katastrophal Versehrten.

Hierdurch gewinnt Czollek eine Position, darin er ein lyrisches Konzept entwickeln kann, das die Weltgeschichte nicht zum Weltgericht platt trampelt. Man kann diesen Punkt sehr leicht belegen. Ich möchte es tun, indem ich ein Gedicht von Czollek mit einem von Heinrich Detering vergleiche. Mein Vergleich ist zufällig; man könnte auch andere wählen. Beide Gedichte, jedenfalls, spielen in Weimar. Das Gedicht von Detering ist thematisch um 1917 situiert und beschäftigt sich mit einer Wildwestshow, die um diese Zeit durch Weimar reiste, um die dort ansässigen Thüringer offenbar zu amüsieren. Es heißt »Buffalo Bill verlässt Weimar«[6]: »Buffalo Bills Wildwest-Show in Weimar / der Übermensch glänzt als Lassowerfer / mit echten Pferden Kanonen und den / echten Helden den Opfern der Kriege / ja nach dem Krieg ritten sie live on stage // […] bevor Buffalo Bill Weimar verließ / stand er still vorm Nationaltheater / blickte heroisch in die Kamera / wie an Schillers Denkmal in St. Louis // […]«. Obschon in dem Gedicht einige Motive aktiv sind, ist es unverkennbar, dass hier die Semantik des Ortes (Weimar als der Ort von der deutschen Klassik und Buchenwald) identifiziert wird mit einem anderorts stattgefundenen Genozid, also dem an den Ureinwohners von Nord- und Südamerikas. Diese Einordnung geschieht sicherlich zu Recht. Allerdings lässt sich aus einer ideologiekritischen Position nun fragen, ob hierdurch nicht die Einmaligkeit jedes Verbrechens relativiert wird?

Nun zu Czolleks Weimar Gedicht. Es heißt »herbst vor weimar« und geht: »herbst vor weimar / ragen buchen warm / in das auge wächst / goethes gartenhaus // […] // verhakelte beine / schornsteingestrüpp / wo du fürchten lernst / die worte verstecken«.

Das unsagbar Schreckliche bleibt hier schrecklich. Der Ort bleibt »warm« auch, wenn jeder Baum zum Menetekel wird. Die Massengräber der »verhakelte[n] beine« sind nicht vordergründig, wie zur Anklage positioniert, sondern verdeckt hinter dem »schornsteingestrüpp« der Erinnerung und des Gedenkens, sodass dieser Ort, »wo du fürchten lernst«, pietätvoll ein Ort der Klage ist. Es ist eines der beunruhigenden Gesten der Klage (in der Autorschaft eines Nachgeborenen), die ich in diesem Feld kenne—und es gibt viele.

Den Modus der Klage vertieft Czollek noch. Im Weimar-Gedicht ist es auf der Ebene des Jetzigen. Im Zyklus »an einen vorgeborenen« wird nun die Klage zur Tradition der Klage aufgenommen, die über die Zeit hin verbindet. Das Gedicht ist, wie man leicht sieht, dialogisch gestellt zu Berthold Brechts »An die Nachgeborenen«. Ich möchte hier nur aus dem III.-Teil zitieren, weil er wunderbar ist: »wirklich ich lebe in zeiten / wo die unglücklichen nicht / mehr weinen wir einfach / weiterschreiben – überall / die finger am abzug war wer / kann da noch freundlich / bleiben was hilft es wozu / sind wir geworden am ende / der eismeere // […]«. Gewiss, man kann denn offenen Pathos dieser Verse kitschig finden; man kann ihn aber auch zulassen, ohne dabei seine Intellektualität aufzugeben, den apokalyptisch-messianische Fragestellung, die dieses Gedicht aufwirft, ist ja, was nun? Wozu all dieses Schreckliche, diese »eismeere«? Das ist nicht revolutionär, aber es muss in jeder Generation gesagt werden.

Die Gedichte Max Czolleks beschäftigen sich auch mit der gegenwärtigen jüdischen Identität, so etwa das Gedicht »המושבה הגרמנית«.[7] Es bekommt schon vom Titel her historische Patina: Die deutsche Moschawa oder die deutsche Dorf-Kolonie. Es ist also ein Gedicht über Haifa bzw. jemanden, der sich dort befindet. Ich denke »המושבה הגרמנית« ist ein Heimatgedicht, das aber die Problematizität von Herkünftigkeit thematisiert, was ja in einer globalisierten Welt eine weit verbreitete Thematik ist, aber im spezifischen Kontext dieses Autors nochmal zuspitzt:

»ich frage mich ob diese stadt / so urlaubsgefühl und abfuck / in mein reimschema passt / immer dabei: immer daneben // der frühling liegt in den wehen / […] im bett ein paar schuppen / die mir der traum gewetzt // will sagen: ich war ganz wund / gerieben von eichen […] // es gibt hier keine möwen / die heimweh kreischen«.

Das »urlaubsgefühl« ist im biographischen Zusammenhang, womit das Gedicht arbeitet, ambivalent in vielerlei Hinsicht: einerseits gibt es die Albträume, die »schuppen« wie Asche auf den Kissen lassen, und gleichwohl ist die Frage der Heimat im »heimweh« eine doppelte. Das Gedicht schrammt immerfort am Schmerz (»wund«) bzw. am Mangel oder der Genügsamkeit, doch zugleich spricht es von einem Geburtsvorgang (»wehen«) in einer Jahreszeit, dem Frühling, da noch alles offen ist – in welche Richtung die Knospen der Bäume schlagen.

Es ließe sich freilich noch viel über diesen Gedichtband sagen, der im Übrigen auch interessante Gedichte zu Thomas Barsch und Wladimir Majakowski sowie die Deutsch-Deutsche-Geschichte beinhaltet. Insgesamt finde ich Max Czolleks »Druckkammern« hervorragend, auch die Illustrationen von Frederik Jurk sind toll und geben dem gesamten Design des Buches einen schönen Schliff. Ich schließe an diesem Punkt mit einer unbedingten Leseempfehlung.

Max Czollek »Druckkammern«Druckkammern
Max Czollek
Verlagshaus J. Frank, Berlin 2012
83 S. mit Illustrationen von Frederik Jurk
€ 13,90 (Gebundene Ausgabe)

 

 

 

 

Diese Rezensionen werden Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Gedichtbände: »duktus operandi« (2010), »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Er ist ebenfalls Übersetzer und Mitherausgeber der internationalen Ausgabe der Lyrikzeitschrift DAS GEDICHT (»DAS GEDICHT chapbook. German Poetry Now«). Soeben erschienen ist »Am Ende der Zeilen. Gedichte | At the End of Days. Gedicht:Poetry«.

  1. [1]vgl. hierzu Texte wie Ralph Angels »Soft and Pretty« oder Forrest Ganders dialogisch angelegtes »Road and Tree«.
  2. [2]Im Übrigen operieren viele Dylan Texte ähnlich. Sie führen Figuren wie den Tambourine Man ein, um die melancholische Stimmung des Themas ironisch zu brechen.
  3. [3]Ich zitiere nur die ersten beiden Abschnitte: »der gegend klemmt die / zigarette im mundwinkel / eine regionalbahn ratscht / über das schotterbrett // an wartesteigen kauern / häuser mit muschelherz / wer hier aufsteht hilft / tüten über die straße // […]«.
  4. [4]Ähnlich funktioniert auch der Text »tian’anmen«.
  5. [5] Damit setzt er sich, denke ich, auch im Modus des Optimismus deutlich von einem in den 90ern grassierenden Pessimismus hinsichtlich einer geschichtsphilosophischen Eintönung der Lyrik ab, wie man sie etwa in Volker Brauns »Da habt ihr das Jahrhundert« oder Hans Magnus Enzensbergers »Auch ein Millennium« findet.

    Das heißt nicht, dass Angst, Schmerz, Trauer in den Gedichten von Max Czollek keine Rolle spielen, im Gegenteil—sie sind pointiert auf eine offene Fortschreibung der Geschichte hin orientiert (vgl. etwa das titellose Gedicht I.-V.) und legen das Subjekt im Licht dieses Prozesses aus.

  6. [6]Es stammt aus Heinrich Deterings Gedichtband »Old Glory« (Wallstein 2012).
  7. [7]Auf die Gründung der preußisch-protestantische Kolonie in Haifa kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Eine Beschäftigung mit den (protestantischen) Templer, die 1868 in Haifa eine deutsche Kolonie begründen, wie auch etwa am See Kinneret und Sarona, lohnt sich aber.

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