Im babylonischen Süden der Lyrik – Folge 37: »LÖTTCHEN: ›UN RONRONEO EN LA VENTANA‹ – ›EIN SCHNURREN AM FENSTER‹: ZWEITER BRIEF AN JUAN GELMAN«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

… y un miauuu cariñoso para Löttchen
de parte de un tipo que ama a los gatos,
Juan

Queridísimo Juan,

Löttchen hat die Hundstage nicht überlebt. Dieser Sommer war sehr heiß wie die drückenden Sommer in Buenos Aires, nur mit weniger Luftfeuchtigkeit. An einem diesigen Montagmorgen im fortgeschrittenen schwäbischen Juli wollte und konnte Löttchen nicht mehr. Sie war schon ziemlich alt für eine Katze, hörte nicht mehr gut, sah auch nicht mehr alles, trank nur noch wenig Wasser, war appetitlos und erschöpft.

 

Tobias Burghardt

INS TÜRKISNE

Löttchen

legt ihr Ohr an die Erde
beim Himbeer-
gesträuch
und Trauben,
schläft im Schatten
der Witterung ihrer Steine,
behält den Überblick
zu ihren Fährten,
Runden,
legt ihr Ohr an die Gründe.

 

Die letzten Jahre hier waren für Löttchen ein wahrer Jungbrunnen: die Verwandlung von einer Balkon- in eine Hofkatze, wiedererwachte Jagdinstinkte und ein weitläufiges Revier, Wege ins Grüne. Löttchen war wie ausgewechselt, fast nicht wiederzuerkennen im Vergleich zu früher.

 

Tobias Burghardt

MONOLOG DER HAUSKATZE

Mit einem elliptischen Satz – ins Gedicht,
mit einem Wort ruft man mich: Löttchen,
der Name gefällt mir, meist höre ich darauf,
obwohl er an Lotta von Malmö
oder die Weimarer Lotte erinnert und ich
weder da noch dort gewesen bin,
der Balkon bleibt mein Revier,
mein Ausblick zur Straße
und auch zur Treppe, neben dem Haus,
manchmal hüpfe ich, wenn es warm wird,
in den verwilderten Vorgarten, überblicke
das Umfeld, ansonsten schlendere ich
durch alle Zimmer, schlummere, wo
die Haare sich wohlfühlen, und habe
jeden im Auge, offen wie geschlossen,
ich spreche nämlich mehr mit meinem Schwanz
als meine Vorfahren, Zenobia I & II, Darío, Fidel,
Jasmina oder Minnalusch, um nur einige zu nennen,
hanako – das Blumenmädchen, das bin ich,
als ich noch klein war, spielte ich damit
und jagte hinter ihm her, denn ich lernte erst
meine eigene Sprache, ich bin ausgeglichen,
wenn er rund ist, sträubt er sich,
bin ich wütend, auf der Hut, im Begriff,
auf Leben und Tod zu kämpfen, beizeiten
versucht jemand, ihn festhalten, aber niemand
kann mich zum Schweigen verdammen,
wieder entwische ich, an dieser Stelle: ins Blaue.

 

Stell dir vor, Juan, ausgerechnet ein Montag! Doch nun leidet sie nicht mehr. Und wenn sie bei Dir auf Besuch vorbeikommt, grüße sie von uns und streichle sie in unserem Namen. Löttchen erinnert sich an Dein »herzliches Miauuu eines Typen, der die Katzen liebt«, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 3. Wir alle vermissen Dich und unser Löttchen so sehr.

 

Con más abrazotes infinitos,

Tobias et al.

 

(ADDENDA)

Wenngleich ein verregneter Montag
nichts anderes zulässt, als Wörter
auf die Straße zu setzen, sie wieder
Lehm werden zu lassen oder vielleicht
ein Schnurren am Fenster, bietest du
beiden im Halbschatten ihren Platz,
eine kleine Flussinsel, die dahintreibt.
Es bleibt allein dieser nächtige Blick,
der nichts mehr sieht. Uns bleibt nicht allein,
was, um nicht zu bleiben, nicht bleibt.

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Im Februar erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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