Starke Stücke, starke Stimmen – Folge 37: »Der stein«

Die begleitende Netz-Anthologie zu DAS GEDICHT 22,
zusammengestellt und ediert von Anton G. Leitner und Hellmuth Opitz

 

Andreas Reimann

Der stein

Aufgehoben am strand: ein stein,
glattrundgeschliffen, doch allgemein.
Weder ein hühnergott, leicht zu durchschaun,
noch einer, in dem unterm roststumpfen braun
der sammler vermutet den kern aus kristall.

‘s ist nur ein vom strande allüberall
geklaubter brocken. Gesucht nicht dort,
also gefunden? Selbst dieses wort
scheint all zu bestimmt für den vorgang zu sein:
ich aufhob am strande um nichts einen stein.

Vielleicht, das ein schwirr-licht ihn brachte zu tag,
als er noch zwischen den anderen lag,
ein blitz, der ins auge mir übersprang,
aber doch nicht ins bewußtsein mir drang,
so daß ich im glauben, ich nähme um nichts
den stein auf, ich’s tat in erinnung des lichts…

Doch wie dem auch sei: er ist auserwählt.

Selbst wenn dem betrachter er weniges zählt:
mir ist er die nähe, und läßt er mich ein
in ozean-dunkel und sonnenschein,
steht groß mir das staunen vorm deutbarer sinn:
er ist mir vertraut wie der anbeginn
jedweden beginnens, den ich nicht weiß… –

Aber es ist eine scharte im kreis:
der stein ist allein, seit der wandrer ihn fand,
Und tiefer ins land weht, erleichtert, der sand.

Anders ist heute der gestrige strand.

© Andreas Reimann, Leipzig

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