Jubiläumsblog. Ein Vierteljahrhundert DAS GEDICHT
Folge 2: Marina Maggio – Der Mensch hinter der Dichterin

Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.

Marina Maggio, geboren am 18.01.1967 in Schweinfurt, lebt in Würzburg und arbeitet dort in der Alten- und Behindertenpflege. Neben dem Schreiben fotografiert sie sehr gerne. Über sich selbst sagt sie: »Mutter, reglose Nacht, Versflüsterin, Frau, Musenbändigerin, Oma, verzückter Tag, sanftes Tier, ein Kind, das Geschichten liebt, Erde, buchstabenbesiedelte Landschaft, Maulwurf, Mangrovenwald, Fluss, über den ein schmaler Steg führt, Lyrikerin.« Marina Maggio hat mehrere Lyrikbände veröffentlicht.

Marina Maggio führten persönliche Schicksalsschläge zur Lyrik. Mit Franziska Röchter sprach sie über die kathartische Wirkung des Schreibens, über ungesunde Dimensionen von Religion und Glauben und über die Befreiung aus Zwängen und Abhängigkeiten.

Für mich war Religion stets ein Zwang.

Liebe Marina Maggio, Sie hatten eine sehr turbulente Kindheit im Kreise vieler Geschwister. Als Tochter einer weißen deutschen Mutter und eines farbigen US-Amerikaners bewegten Sie sich in zwei Welten. Was war so schlimm daran?

Das Schlimme daran war nicht, sich in zwei Welten zu bewegen. Für mich war es meine dunkle Hautfarbe, die mir Grenzen setzte. Ich wollte »normal« sein, wie all die anderen Kinder, mit denen ich aufwuchs. Als Kind habe ich es manchmal deutlich zu spüren bekommen, dass ich »anders« war. Ich beneidete die anderen Kinder um ihre blauen/grünen Augen, ihre helle Haut und die glatten Haare. Ich war für viele Menschen immer das Mischlingskind, dem man mal gerne über die Locken strich, um zu spüren, wie sich krauses Haar anfühlt.

Spielte in Ihrer Kindheit Beten oder Religion eine Rolle?

Religion spielte für mich in der Kindheit keine große Rolle. Ich habe erst viel später erfahren, dass ich nicht als Baby getauft wurde, sondern erst mit 1 ½ Jahren. Ich bin zur Taufe gelaufen. Für mich war Religion stets ein Zwang. Mich haben nicht einmal die Geschenke interessiert, die ich zur Kommunion oder zur Firmung bekommen habe. Mein Religionslehrer war ein fürchterlicher Mann und zudem noch der Pfarrer der Gemeinde. Stets sprach er von Schuld und Sünde und dass wir in die Hölle kämen, wenn wir nicht dies oder jenes tun würden und bei ihm saß oft die Hand sehr locker. Als Kind fiel mir mal in der Kirche der Klingelbeutel aus der Hand und das ganze Münzgeld verteilte sich bis fast nach vorne vor die Kanzel. Man schaute mir dabei zu, wie ich alleine die ganzen Münzen wieder einsammelte. Es war eine peinliche Situation. Noch heute habe ich einen Horror davor, den Klingelbeutel in die Hand zu nehmen.

Sie schreiben in Ihrem Buch »Warum ein Maulwurf keinen Schmetterling fangen kann – Depression in Lyrik und Prosa«, dass Sie »anscheinend nicht so wichtig« waren innerhalb der Familie. Wann merkten Sie, dass es innerhalb einer solchen Großfamilie für den Einzelnen ziemlich eng werden kann?

Meine Mutter ging putzen, um über die Runden zu kommen. Deshalb waren wir oft allein oder bei meiner Oma. Wenn unter uns Geschwistern mal wieder Streitigkeiten ausbrachen und wir uns gegenseitig schlugen, konnten wir damit nicht zu unserer Mutter kommen. Denn dann bekamen wir noch eine Abreibung von ihr. Schon sehr früh sehnte ich mich nach einem anderen Leben, überhaupt nach einer intakten Familie. Ich wollte auch einen Vater wie meine Schulkameraden, denn meinen Vater kannte ich nur von einer Schwarz-Weiß-Fotografie, auf der er mich als 6 Wochen altes Baby auf dem Arm hielt. Meine Mutter erzählte mir, dass sich mein Vater freiwillig nach Vietnam gemeldet hatte, nachdem sie ihn nicht heiraten und nach Amerika ziehen wollte. Sie sagte mir auch, dass er dort im Krieg gefallen sei und deshalb nicht mehr zurückgekommen ist. Mehr als dreißig Jahre später erfuhr ich durch einen Zufall, dass er in Texas lebt und wieder verheiratet ist. Aber das ist eine andere Geschichte.

Als Kind weiß man ja nichts über Adoption. … Du fragst dich, wann du die Nächste bist, die verschwindet …

In Ihrem Buch erzählen Sie auch davon, dass manche Ihrer Geschwister »über Nacht verschwunden waren«. Blieben die Geschwister für immer verschwunden oder tauchten sie irgendwann wieder auf?

Für mich als Kind war es wirklich schlimm, dass über Nacht meine beiden Brüder Johnny und Robert verschwunden waren. Du sitzt mit ihnen am Tisch, du isst an ihrer Seite und spielst mit ihnen und plötzlich sind sie weg. Einfach so. Und irgendwann als Jugendliche erfährst du von der Mutter, dass sie sie zur Adoption nach Dänemark weggegeben hat. Als Kind weiß man ja nichts über Adoption. Eine andere Schwester ging freiwillig ins Heim. Du merkst nur, dass sie weg sind und fragst dich, wann du die Nächste bist, die verschwindet. Trotz mehrerer Versuche meine Brüder zu finden, ist es mir bis heute nicht gelungen, sie ausfindig zu machen. Meine Schwester habe ich wiedergefunden.

Marina Maggio. Foto: privat
Marina Maggio. Foto: privat

Haben Sie Ihr Elternhaus früh verlassen und hatten Sie dann Gelegenheit, sich selbst zu erproben im Leben?

Ich ging sehr selten fort. Wenn, dann meistens zu Freundinnen, und dort blieben wir zuhause. Natürlich ging ich auch in Diskotheken, die wurden mir aber schnell zu laut. Ich machte als Jugendliche viel Sport. Taekwondo war für mich ein Sport, bei dem ich meine Aggressionen und die angestaute Wut ablassen konnte. Als ich 17 Jahre alt war, zog meine ältere Schwester zu meiner Mutter und mir. Einer meiner Brüder kam fünf Jahre zuvor durch einen Motorradunfall ums Leben, meine jüngere Schwester hatte mit Erlaubnis meiner Mutter mit 15 Jahren einen US-Soldaten geheiratet und die Schule abgebrochen und ein anderer Bruder war längst ausgezogen. Meine Mutter zog dann auch so schnell wie möglich aus, meine Schwester hat über Nacht die Koffer gepackt und ich war dann in einer 4-Zimmer-Wohnung alleine und musste mir so schnell wie möglich eine bezahlbare Wohnung suchen.

Nachdem ich die Wohnung gefunden hatte, lernte ich fast zeitgleich die Zeugen Jehovas kennen und meinen Mann. Es war ziemlich schwierig, denn wir durften uns nicht alleine sehen. Ich war katholisch und habe angefangen, mit einer Zeugin die Bibel zu studieren, bin nach circa einem Jahr aus der Kirche ausgetreten und habe mich als Zeugin Jehovas taufen lassen.

Man sollte auch das »Kleingedruckte« in der Bibel lesen.

War es für Sie selbstverständlich, den Glaubensauffassungen Ihres damaligen Mannes direkt zu folgen?

Als ich getauft war, durfte ich mich endlich mit meinem Mann verloben. Zusammen wohnen oder leben, küssen und miteinander schlafen durften wir nicht. Das war verboten und hätte zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führen können. Vorehelichen Geschlechtsverkehr nennt man das bei den Zeugen Jehovas und es ist Hurerei. So hatten wir immer, wenn wir uns getroffen haben, eine »Kerze« dabei. Kerze stehen, so nennt man das bei den Italienern, wenn bei einem Treffen zukünftiger Ehepaare eine dritte oder vierte Person dabei ist, damit auch wirklich nichts passiert vor der Ehe. Ich hatte kein Problem damit, denn ich war vollkommen von diesem Glauben überzeugt. Und so stellte ich mir auch die perfekte Ehe vor: Die Erste und Einzige für einen Mann zu sein, im weißen Brautkleid zu heiraten, später Kinder zu bekommen und zusammen alt werden.

Leider endete diese Vorstellung schon in der Hochzeitsnacht. Man sollte auch das »Kleingedruckte« in der Bibel lesen. Nämlich, dass der Mann das Haupt der Familie ist und somit auch tun und lassen kann, was er will. Natürlich kann man als Frau auch Einwände vorbringen, aber das letzte Wort hat der Mann. Und zwar in jeglicher Hinsicht. Die Frau hat zu gehorchen, um keine Schande auf den Namen Jehovas zu bringen. Und somit ist auch ein Nein der Frau ungültig, wenn es der Mann nicht akzeptiert.

Und irgendwann reagiert der Körper auf die ständige Angst und man wird krank. Die Seele beginnt, sich durch die Haut zu fressen und durch das Gemüt.

Krass liest sich Ihre Erinnerung, wie Sie bei der Geburt Ihres ersten Kindes beinahe verblutet wären, jedoch aus Glaubensgründen eine Bluttransfusion ablehnten. Was passiert Glaubensangehörigen, die sich in einer solchen Situation anders entscheiden würden?

Es gibt auch die Möglichkeit, sich blutplasmafreie Expander oder Kochsalzlösung geben zu lassen. Damals war ich bereits depressiv, wusste es aber nicht, da ich mich nicht mit diesem Krankheitsbild auskannte. Gedanklich kam für mich der Tod zur rechten Zeit. So ein starker Blutverlust macht müde und man dämmert vor sich hin. Und am liebsten wäre ich in diesem Zustand geblieben. Zeugen Jehovas, die sich für eine Bluttransfusion entscheiden, um ihr Leben zu retten, verstoßen gegen das Gesetz der Bibel und der Zeugen Jehovas. Wenn sie danach nicht bereuen, werden sie sanktioniert oder auch aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Sanktionen können sein, dass man zum Beispiel seinen Posten als Ältester oder Pionier verliert, für eine gewisse Zeit keine Kommentare in der Versammlung mehr abgeben darf.

Jeder Zeuge Jehovas trägt einen Blutausweis mit sich. Darin steht, dass man, egal wie schlecht es um einen steht, eine Bluttransfusion verweigert. Daran müssen sich auch die Ärzte halten, da es sowas wie eine Patientenverfügung ist, die auch von mehreren Personen unterschrieben wird. Vorzugsweise von Nichtangehörigen, damit es leichter fällt, Nein zur Bluttransfusion zu sagen.

Fiel es Ihnen leicht, Ihre Kinder nach den angenommenen Auffassungen zu erziehen?

Nein, es fiel mir nicht leicht. Als ich noch katholisch war, durfte ich Geburtstag feiern, Weihnachten und Ostern. Das durften meine Kinder nicht, und es war schlimm für mich und die Kinder. Besonders als sie dann in den Kindergarten gingen und in die Schule. Das war auch die Zeit, als ich anfing, immer mehr am Glauben zu zweifeln. Ich erlaubte ihnen auch in den Kindergarten zu gehen, wenn dort Weihnachten, Ostern oder Geburtstag gefeiert wurde.

Wann stellten Sie fest, dass Sie nicht nur gefangen waren in einer Glaubensgemeinschaft, sondern mittlerweile auch Gefangene ihrer eigenen trüben und dunklen Gedanken waren?

Eigentlich stellt man es sehr schnell fest, hat aber Angst, aus diesem »Käfig« auszubrechen. Schließlich verliert man dadurch seine Freunde/Familie, eigentlich alles. Ein Löwe, der in Gefangenschaft aufgewachsen ist, verlässt auch nicht so schnell die Welt innerhalb seiner Gitterstäbe, selbst wenn man ihm die Käfigtür öffnet und ihn mit dem saftigsten Fleisch lockt. Er kennt nur diese Begrenztheit. Wer weiß, was draußen in der Freiheit lauert. Als Zeuge Jehovas ist man auch so eine Art »Käfigtier«. Außerhalb der Gitter lockt die Freiheit, aber es locken auch die vermeintlichen Gefahren, die einem immer wieder eingetrichtert werden, damit man es sich gut überlegt, ob man den Käfig verlassen möchte.

Und mein Therapeut sagte dann eines Tages zu mir: »Wenn du nicht reden kannst, dann schreibe es doch auf.«

Während Ihres Heilungsprozesses schrieben Sie eine Art Tagebuch, flankiert von lyrischen Aufzeichnungen. Dort heißt es in einem Eintrag aus September 2012: »Ich will nichts mit meinen Erinnerungen zu tun haben«. Wann und wodurch kamen Sie auf die Idee, das alles festzuhalten, zu dokumentieren, ja sogar darüber Gedichte zu verfassen?

Durch meinen Therapeuten, der ebenfalls ein Autor und Lyriker ist. Ich sprach nicht viel in der Therapie. Wenn man immer den Mund verboten bekommen hat, hört man auf zu sprechen. Man wird leise. Und dann still, denn da ist ja eh niemand, der dir zuhört und dir hilft. Und mein Therapeut sagte dann eines Tages zu mir: »Wenn du nicht reden kannst, dann schreibe es doch auf.« Am Anfang machte sogar das mir Angst, da all die Geschehnisse dann schwarz auf weiß auf dem Papier stehen und somit nicht mehr wegzuleugnen/wegzudenken sind. Aber es wurde immer besser und befreiender. Die Gedanken, die in meinem Kopf kreisten, ruhten sich nun auf dem Papier aus. Jetzt wurde sichtbar, was unsichtbar war, greifbar, was nicht greifbar bzw. zuvor nicht zu begreifen war.

Würden Sie sagen, Ihre Beziehung hat unter der Glaubenszugehörigkeit gelitten?

Die Beziehung hat unter der Glaubenszugehörigkeit nicht so viel gelitten wie ich. Ich war ja die Frau, die sich unterordnen musste. Für meinen Mann war das o.k. Als Mann bei den Zeugen Jehovas ist man privilegiert. Wie oben bereits erwähnt, zweifelte ich sehr bald am Glauben, traute mich aber nicht, es auszusprechen oder aus der Gemeinschaft auszubrechen. Irgendwann wurde ich dann ziemlich krank und entwickelte eine starke Neurodermitis an den Händen und Armen. Nichts half! Kein Kortison und auch keine andere Therapie. Mein Arzt meinte, es wäre seelisch bedingt. Es wurde immer schlimmer. Zuletzt schwoll mir sogar der Hals innen so stark zu, dass ich fast erstickt wäre. Im Krankenhaus fiel dann für mich die endgültige Entscheidung. Ich schrieb einen Brief an die Zeugen Jehovas, in dem ich mitteilte, dass ich mich ausschließen lassen will. Sie gaben mir noch eine Bedenkzeit, die ich verstreichen ließ, und dann war ich ausgeschlossen. Eine Abtrünnige.

Meinen Mann traf es am schlimmsten und das wollte ich damit auch erreichen. Ich war jetzt eine Ausgeschlossene. Und er hatte somit versagt, seinem ›Haus‹ gut vorzustehen, seine Frau im Glauben zu führen. Damit habe ich mich allerdings ins eigene Fleisch geschnitten, aber meine Haut war inzwischen unempfindlich und taub geworden. Den körperlichen Schmerz konnte ich gut ausblenden, Drohungen und Beschimpfungen gingen zum einem Ohr rein und zum anderen wieder hinaus. Aber meine Seele machte sich bemerkbar.

Ich lebe nicht mehr in deiner Welt in / der du mich durch ein Versprechen / haltbar gemacht hast … / Lass uns Geschichte sein

Man liest ja immer wieder, das »Ausgestiegene« sozial isoliert werden. Wie lässt sich das innerhalb der Familie umsetzen?

Als Ausgeschlossene wird man isoliert und ausgegrenzt. Andere Glaubensmitglieder dürfen nicht mehr mit dir sprechen, dich einladen oder grüßen. Du hast Jehova verlassen und dafür musst du nun büßen. Der einzelne Zeuge Jehova bestimmt für sich selbst, ob er noch was mit den Ausgeschlossenen zu tun haben will. Es gibt Zeugen Jehovas, die ihre eigenen Kinder verstoßen, Kinder, die ihre Eltern oder einen Elternteil verstoßen.

Ich kenne einen Zeugen, der sich outete, homosexuell zu sein. Seine ganze Familie, bis auf die Tanten, die nicht bei den Zeugen Jehovas sind, sprechen seit Jahren kein Wort mit ihm. Er musste von Fremden erfahren, dass seine Schwester, mit der er ein so herzliches Verhältnis gehabt hatte, geheiratet hat. Ich durfte zur Beerdigung meines Schwiegervaters zwar kommen, durfte aber weder meiner Schwägerin noch meiner Schwiegermutter kondolieren. Ich durfte auch nicht neben der Familie sitzen. Innerhalb meiner Wohnung und im Geschäft durfte ich mich mit meinem Mann unterhalten bzw. haben wir uns unterhalten. Aber wenn Zeugen zu ihm zu Besuch kamen, musste ich das Zimmer verlassen.

Der Mensch braucht etwas, an das er glauben kann, vor allem wenn es auf das Lebensende zugeht.

Was glauben Sie ist der stärkste Grund oder die Ursache dafür, dass sich auch heute noch viele Menschen religiös oder anderweitig motivierten Gruppierungen wie den Zeugen Jehovas anschließen?

Ein Grund, warum sich Menschen religiösen Gemeinschaften anschließen, ist die Einsamkeit. Und die Suche nach einer Art Heimat und Zugehörigkeit. In einer Gemeinschaft fühlt man sich auch geschützt. Außerdem kann man die Verantwortung mit anderen teilen. Auch sucht man ein friedliches Miteinander. Bei mir war es die Suche nach einer intakten Familie mit Werten, mit Moral, Liebe und Zusammenhalt. All das haben mir die Zeugen Jehovas für eine Weile geboten. Ich fühlte mich anfangs gut aufgehoben, erwünscht, wertvoll. Rasse oder Hautfarbe spielten dort keine Rolle. Man wurde so, wie man ist, angenommen.

Ich denke, so ganz ohne Glauben geht es nicht. Der Mensch braucht etwas, an das er glauben kann, vor allem, wenn es auf das Lebensende zugeht. Glaube ist wie eine Zusicherung, dass alles gut wird, auch wenn wir es noch nicht sehen/erkennen können.

Kinder sollen Religion als etwas Positives erfahren, nicht als etwas Bestrafendes.

Wie sollten Kinder im Hinblick auf Konfession, Religionszugehörigkeit, Glaubensausübung erzogen werden? Wie würde Ihrer Meinung nach ein idealer Religionsunterricht an Schulen aussehen?

Kinder sollen mit Freude an das Thema Religion herangeführt werden. Sie sollen Religion als etwas Positives erfahren, nicht als etwas Bestrafendes. Sie sollen nicht in die Religion »hineingezwungen« werden, sondern sich frei für die Religion, die ihnen am ehesten zusagt, entscheiden dürfen, wenn sie alt genug sind.

Ich weiß leider nicht, wie ein idealer Religionsunterricht aussehen soll. Ich finde, man sollte den Kindern nicht schon in der Grundschule im Religionsunterricht die »Dornenkrone« der Sündhaftigkeit, der Buße, der Strafe und des Höllenfeuers aufsetzen. Das wäre vielleicht schon mal ein Anfang.

Glauben Sie, dass es wirksame Strategien gibt, mit sich selbst umzugehen, um es nicht so weit kommen zu lassen, wie in Ihrem Buch beschrieben? Gibt es so etwas wie ein vorbeugendes Verhalten?

Ich glaube, Strategien nützen erst dann etwas, wenn man das Problem kennt/erkennt. Wie kann ich vorbeugend handeln, wenn ich noch gar nichts von meinem »Unglück« weiß? Ich nehme ja auch nicht vorher eine Schmerztablette ein, wenn ich noch keine Schmerzen habe. Erst jetzt, nach all der Therapie, nach der Reflexion und der Arbeit an mir selbst, kann ich einschätzen, wann meinen »Maulwurf« wieder mal das Fell juckt, und kann mir Hilfe holen.

Liebe Marina Maggio, herzlichen Dank für das offene Gespräch.
 

Ein Glücksklee
grüßte mich
taubenetzt am
frühen Morgen.
Hab ihn stehen gelassen
für jemanden mit
größeren Sorgen.
 

© Marina Maggio
 

aus:

Marina Maggio: Warum ein Maulwurf keinen Schmetterling fangen kann - Depression Lyrik und ProsaMarina Maggio
Warum ein Maulwurf keinen Schmetterling fangen kann
 

Depression in Lyrik und Prosa
Verlag 3.0, Linz a. Rhein 2014
ISBN 9783956671289


 

Franziska Röchter. Foto: Volker Derlath

Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.


Die »Internationale Jubiläumslesung mit 60 Poetinnen und Poeten« zur Premiere des 25. Jahrgangs von DAS GEDICHT (»Religion im Gedicht«) ist eine Veranstaltung von Anton G. Leitner Verlag | DAS GEDICHT in Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Mit Unterstützung der Stiftung Literaturhaus. Medienpartner: Bayern 2.

DAS GEDICHT Logo

 

Literaturhaus München


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert