Jubiläumsblog. Ein Vierteljahrhundert DAS GEDICHT
Folge 58: Thomas Böhme – Der Mensch hinter dem Dichter

Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.

Thomas Böhme, geboren 1955 in Leipzig, lebt dort. Mitglied des Deutschen PEN-Zentrums und des Schriftstellerverbandes. Seit 1983 ca. 25 Einzel­veröffent­lichungen, zuletzt »Abdruck im Niemandswo. Gedichte « (Poetenladen, Leipzig 2016).

Thomas Böhme liebt die Poesie, weil diese die Zuneigung erwidert. Mit Franziska Röchter sprach er über seine Vorliebe für alte Wörter, das Bewahren von Erinnerung in beschleunigten Zeiten und verkannten Humor.

Dichtung bildet die Sedimentschicht unseres Daseins.

Bitte beschreiben Sie Ihre Erscheinung mit maximal sieben Eigenschaftswörtern.

Mittelgroß, schlank, Brillenträger, gelichtetes graues Haar, leger gekleidet.

Sie lieben Hüte. Warum, glauben Sie, benötigt man einen?

Ich mag es nicht, ohne Kopfbedeckung aus dem Haus zu gehen, vor 100 Jahren eine Selbstverständlichkeit. Gute Traditionen sollte man pflegen.

Bitte beschreiben Sie Ihr Wesen mit maximal sieben Begriffen.

Einzelgänger, Eigenbrötler, Morgenmuffel, bestrebt, unabhängig zu denken und zu handeln.

Was, glauben Sie, schätzen Freunde am meisten an Ihnen?

Beständigkeit, Verlässlichkeit.
 

Thomas Böhme. Foto: Thomas Birnbaum
Thomas Böhme. Foto: Thomas Birnbaum

 

Unangepasstes Denken war damals nicht erwünscht.

Sie haben nach 1974 in Greifswald auf Lehramt studiert. Welche Fächer hatten es Ihnen angetan und warum haben Sie das Ganze nicht offiziell zu Ende gebracht?

Deutsch/Kunsterziehung, unangepasstes Denken war damals nicht erwünscht.

Seit 1985 leben Sie als freier Schriftsteller. Ausschließlich?

Nein, ich habe auch bei Künstlerprojekten mitgewirkt.

Bitte nennen Sie Ihre jüngsten oder für Sie wichtigsten Veröffentlichungen.

»Der Schnakenhascher«, Roman 2010.
»101 Asservate«, Geschichten zu alten Wörtern 2012.
»Abdruck im Niemandswo«, Gedichte 2016.

Wie und warum kam es zu der Idee, 2012 das Buch »101 Asservate: Alter Worte Welt« (Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig) zu veröffentlichen? Welches ist Ihr Lieblings-»Asservat«?

Ich hatte seit jeher eine Vorliebe für alte Wörter, ein Text kam zum anderen, dann waren es genügend für ein Buch.

Der »Möndchenschieber« ist mein Lieblingswort darin. Es verbindet mich mit meiner Kindheit und gehört zu den Worten der Mutter-Sprache. Selbst Altersgefährten kennen es nicht.

Sie haben schon einmal ein Buch zu ›aussterbenden‹ Dingen gemacht, und zwar 2010 den Gedichtband »Heikles Handwerk. 66 Fallstudien« (poetenladen, Leipzig) verschwundener oder verschwindender Berufe. Welchen verschwindenden Berufen trauern Sie am meisten nach?

Ich traure um jedes Handwerk, das verschwindet, es ist ja gerade die Vielfalt, die verlorengeht.
 

EIN BARBIER irrt stundenlang durch Berlin.
Seine Erinnerung treibt schaumige Blüten.
Ein Eckensteher in Hauptmannsuniform salutiert.
Die Animierdamen mit preußischen Pickelhauben
Und die barbusigen Kellnerinnen in der Ackerstraße
haben ihn erst geflöht, dann verpfiffen.
Der Saum seines Kleids streift durch Hundekot.
Ein Volkspolizist hakt ihn unter
und läßt ihn an seiner Dienstwaffe schnuppern.
Unter den Linden flattern Hakenkreuzfähnchen
einträchtig neben umhäkelten Taschentüchern.
Ein Strichjunge, der wie Marlene Dietrich singt
zählt die Tageseinnahmen. Niemand beachtet
das hübsche Rasiermesser an seiner Kehle.
 

aus: »Heikles Handwerk. 66 Fallstudien« (poetenladen, Leipzig 2010). . Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Andreas Heidtmann, Poetenladen
 

Jede Dichtung bewahrt Erinnerung an gelebte Zeit.

Ihr aktueller Gedichtband »Abdruck im Niemandswo – Gedichte« (poetenladen, Leipzig 2016) bricht laut Ralf Julke (Leipziger Internetzeitung) »eine ›Lanze für Leipzig‹ …, das andere Leipzig, das sich mit dem Sound des weiten Westens gegen die Enge, Kleinkariertheit und Kleinbürgermentalität wehrte, das auch in heruntergekommenen Straßen, im Ruß der Kohleschlote seine Widerständigkeit und seine Lebenslust bewahrte«. Sie vereinen Gedichte der letzten zehn Jahre mit neueren Texten. Sabine Haupt nennt die Gedichte darin auch als »Streifzüge durchs (kollektive) Vergessen« und bezeichnet Sie als »dichtenden Archäologen«. Kindheit, Nachkriegskindheit, die Geschichte des 20. Jahrhunderts werden von Ihnen bedichtet. Ist Ihnen die beschleunigte Gegenwart mit ihrer Informationsflut eher suspekt? Oder drängt sich das Motiv der Sanduhr (»Ich & mein Tod«) lähmend in den Vordergrund?

Die Beschleunigung kann man nicht verhindern, wohl aber das Vergessen. Jede Dichtung bewahrt Erinnerung an gelebte Zeit, sie bildet die Sedimentschicht unseres Daseins. Die Sanduhr ist ein tröstliches Motiv, weil sie immer wieder umgedreht werden kann.

Stimmt es, dass Sie keinen Führerschein besitzen? Wenn ja, warum?

Ja. In der Stadt brauche ich kein Auto. Wenn ich in seltenen Fällen eins brauchte, hätte ich keine Fahrroutine, also lasse ich‘s besser bleiben.

2014 waren Sie der 50. Stipendiat der Hesse-Stiftung in Calw. Daraus gingen die »Calwer Sinclairiaden« hervor (Calwer Hermann-Hesse-Stiftung, Calw 2015). Was beinhalten diese und wo sind sie zu bekommen?

Eigentlich ein Büchlein vom Klären der Gedanken beim Wandern, darüber hinaus führe ich Zwiesprache mit H. Hesse und seinen Gestalten.

Zu beziehen sind Restexemplare über die Sparkasse Pforzheim Calw.

Ihre neueren Gedichte, so liest man, sollen schon mal Ratlosigkeit beim Leser oder Zuhörer hinterlassen. Sie seien zwar nicht sperrig im avantgardistischen Sinne, aber »eigenwillig«. Warum, glauben Sie, wird das so gesehen?

Darüber ist mir nichts bekannt. Gerade meine neueren Gedichte sind von großer Schlichtheit. Wenn ein solches Gedicht dennoch Ratlosigkeit hinterlässt, liegt es an der falschen Erwartung. Gedichte erzählen keine Geschichten, auch wenn sie scheinbar einen erzählerischen Ansatz haben.

2007 haben Sie sich auch als Fotograf an die Öffentlichkeit gebracht, mit »Widerstehendes – Fotografien und Texte« (Leipziger Literaturverlag). Welche Objekte und Gegenstände in dem Buch haben es Ihnen besonders angetan?

Verfallene und vergessene Ort, etwa ein Kriegerdenkmal, dem das Gesicht abgeschlagen ist.

1998 haben Sie schon einmal ein Buch mit Fotos veröffentlicht, »Jungen vor Zweitausend. Porträtfotos aus Leipzig und Halle« (Selbstverl. / fliegenkopf verlag, Leipzig / Halle 1998). Welche Menschen wurden von Ihnen portraitiert?

Jungen und junge Männer zwischen 10 und 20, meist Freunde und Bekannte, seltener Zufallsbegegnungen. Noch in der DDR geboren, aber mit neuem Selbstbewusstsein, das sich in vielen Ausdrucksformen von älteren Genrationen unterschied.

Was mögen Sie am meisten an Leipzig?

Den Kulkwitzer See, wo ich ganzjährig baden gehe.

Wie ordnen Sie Ihren lyrischen Stil ein? Mit welchen Dichtern fühlen Sie sich besonders verbunden?

Schwer zu sagen, ich bemühe mich um einen eigenen Stil, Vorlieben sind natürlich herauszulesen, zuerst Gottfried Benn, aber auch Tomas Tranströmer, W. C. Williams, Fernando Pessoa… Ich schätze zudem die späten Essays und Tagebücher von Ernst Jünger.

Welche Eigenschaften an Ihnen werden möglicherweise von anderen verkannt?

Mein Humor.

Woher kommt Ihre Liebe zur Poesie?

Aus erwiderter Zuneigung.

Seit wann kennen Sie die Zeitschrift DAS GEDICHT?

Seit ca. 1996.

Wie sind Sie auf DAS GEDICHT gestoßen?

Weiß ich nicht mehr, offenbar hat A. G. Leitner mich angeschrieben und um einen Text gebeten.

Was ist Ihr Lieblingsgedicht aus eigener Feder?

Würde ich eins auswählen, wären ca. 100 andere Gedichte zu Recht beleidigt.

Jeder, der Gedichte schreibt, sollte wenigstens einen Gedichtband kaufen.

Was wünschen Sie der Poesie generell, damit mehr Menschen Gedichte lesen oder Gedichtbände kaufen?

Jeder, der Gedichte schreibt, sollte wenigstens einen Gedichtband kaufen. Die Auflagen würden in die Höhe schnellen, aber Massenware waren Gedichte nie und sollen es auch nicht sein.

Woran arbeiten Sie gerade in literarischer oder künstlerischer Hinsicht?

Meistens an drei Manuskripten zugleich, Prosa und Lyrik.

Was stört Sie am meisten im Literaturbetrieb?

Das Ranking. Literatur ist keine Hitparade! Die Scheuklappen für Vielfalt und die Ignoranz des Buchhandels gegenüber kleinen und unabhängigen Verlagen.

Lieber Thomas Böhme, herzlichen Dank.

 
Thomas Böhme
Abdruck im Niemandswo

Gedichte
Poetenladen, Leipzig 2016
Hardcover, 160 Seiten
ISBN 978-3-940691-75-0


 
Thomas Böhme nimmt an der Jubiläums-Lesung am 18.11.2017 in Schleswig teil.

 

Franziska Röchter. Foto: Volker Derlath

Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.


Die »Internationale Jubiläumslesung mit 60 Poetinnen und Poeten« zur Premiere des 25. Jahrgangs von DAS GEDICHT (»Religion im Gedicht«) ist eine Veranstaltung von Anton G. Leitner Verlag | DAS GEDICHT in Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Mit Unterstützung der Stiftung Literaturhaus. Medienpartner: Bayern 2.

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