Jubiläumsblog. Ein Vierteljahrhundert DAS GEDICHT
Folge 59: Manfred Schlüter– Der Mensch hinter dem Dichter

Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.

Manfred Schlüter, geboren 1953, lebt in Hillgroven, einem Dorf an der Nordsee. Dort schreibt er Gedichte und Geschichten. Oder er malt Bilder für Bücher. Und wenn die Flut es gut mit ihm meint, schwemmt sie Holz und andere Schätze an den Deich. Daraus baut er Objekte. 1983 wurde ihm der Friedrich-Hebbel-Preis zuerkannt und 2008 der Friedrich-Bödecker-Preis, 2017 der Kulturpreis des Kreises Dithmarschen. Zudem erhielt er Auszeichnungen der Stiftung Buchkunst sowie der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur in Volkach. www.manfred-schlueter.com

Als Bürgermeister einer Streusiedlung an der Nordseeküste bleibt Manfred Schlüter genug Zeit für seine kreativen Leidenschaften. Welche Wünsche ›sein‹ Dorf hat, welche Begegnungen für ihn besonders nachhaltig waren und warum er die Stille hören kann, verriet er Franziska Röchter.

Ich hab gut zehn Jahre lang die Texte anderer illustriert. Dann wuchs der Wunsch, zu schreiben.

Lieber Manfred Schlüter, zunächst herzlichen Glückwunsch! Sie sind frischgebackener Preisträger des Kulturpreises des Kreises Dithmarschen. Wofür wird der Preis vergeben und: Wofür werden Sie ihn verwenden?

In der Pressemitteilung des Kreises Dithmarschen heißt es: »Der Kulturpreis wird vornehmlich an einzelne Persönlichkeiten verliehen, die in Dithmarschen geboren sind oder leben und sich durch ihren langjährigen persönlichen Einsatz um das kulturelle Leben im Kreis in herausragender Weise verdient gemacht haben.« Im Bereich der bildenden Kunst und des Kunsthandwerks, der Literatur und Literaturwissenschaft, der Musik, der Denkmal- und Heimatpflege. Auch Sarah Kirsch hat ihn mal bekommen. Im Jahr 2000. – Wofür ich den Preis verwenden werde? Es wird Winter. Ich werde den Heizöltank füllen können. Schön!

Sie leben ja seit ca. 30 Jahren in der Dorfschule von Hillgroven. Sind Sie dort auch schon selbst zur Schule gegangen? Haben Sie nie das Bedürfnis, in einer größeren Stadt zu leben?

Ich bin bereits 1978 in dieses Dorf gezogen, lebe also schon seit fast 40 Jahren in der ehemaligen Dorfschule. Dort wurde noch bis 1965 unterrichtet. In dem einzigen Klassenraum. Ich war nicht dabei, hab anderswo die Schulbank gedrückt. – Meine Lesereisen führen mich oft in größere Städte. Und ich genieße das. Aber ich freue mich immer, wenn ich nach Hillgroven zurückkehre.

Im Laufe der Jahrzehnte ist etwas Kostbares gewachsen: Vertrauen.

Seit 2013 sind Sie Bürgermeister von Hillgroven. Hillgroven ist ja eine sogenannte Streusiedlung. Das heißt, einen Ortskern mit Rathaus und Kirche gibt es nicht?

Nein, es gibt weder Rathaus noch Kirche. Nicht mal eine Gastwirtschaft. Aber eine wunderbare Dorfgemeinschaft. Im Laufe der Jahrzehnte ist etwas Kostbares gewachsen: Vertrauen.

Was macht ein Bürgermeister einer Gemeinde mit ca. 71 Einwohnern? Wie hat man sich den Arbeitsalltag eines solchen Bürgermeisters vorzustellen? Müssen Sie da überhaupt jeden Tag als Bürgermeister tätig?

Zunächst einmal möchte ich sagen: Es rührt mich, dass die landwirtschaftlich geprägte Dorfgemeinschaft mir als Zugezogenem das Vertrauen ausgesprochen hat. – Nein, ich muss nicht jeden Tag ›bürgermeistern‹. Die Arbeit im Dorf ist überschaubar. Aber ich bin kraft Amtes auch Mitglied im Amtsausschuss, im Schulverband, im Wegeunterhaltungsverband, im Breitbandzweckverband, im Wasserverband und und und. Das frisst schon Zeit. Doch die künstlerische Arbeit kommt nicht zu kurz.
 

Manfred Schlüter. Foto: Arne Rautenberg
Manfred Schlüter. Foto: Arne Rautenberg

An was fehlt es in Ihrem Dorf, was würden die »Dörpslüüd« gerne haben, was noch nicht da ist?

Menschen! Die sind zwar schon da. Aber es werden immer weniger. Die Alten wechseln irgendwann die Welten. Und die Jungen ziehen oftmals weg. Es fehlen Arbeitsplätze in der Region.

Die Tür zur Bücherwelt tatsächlich geöffnet hat mir Boy Lornsen.

Seit 1979 illustrieren Sie Bücher für andere. Dabei tauchen große Namen auf wie Michael Ende, Boy Lornsen, Sarah Kirsch, Doris Lessing, Pearl S. Buck … Wie haben Sie zum Beispiel Michael Ende kennengelernt? Und wer gab den Anstoß, aus einem Grafik-Designer einen Bilderbuch-Illustrator werden zu lassen?

Michael Ende bin ich zum ersten Mal begegnet, als die drei Bilderbücher, die wir ›gemeinsam‹ gemacht haben, bereits erschienen waren. Eine Zusammenarbeit stelle ich mir eigentlich anders vor. Rückblickend allerdings bin ich froh, dass wir uns nicht schon früher kennengelernt haben. Michael Ende feierte Anfang der 1980er Jahre mit »Die unendliche Geschichte« seinen größten Erfolg. Und ich stand ganz am Anfang. Wären wir uns begegnet, hätte ich ihm vermutlich jeden (aber auch jeden!) Wunsch erfüllen wollen. So war ich freier und konnte mehr von mir in die Bilder einfließen lassen. Das hat mein damals kaum ausgeprägtes Selbstbewusstsein gestärkt. Und für die Bücher, denke ich, war’s auch nicht schlecht. – Wer den Anstoß gab? Ich selbst. Nach einigen Jahren freiberuflicher Arbeit als Grafik-Designer war der Traum gewachsen, Bücher zu illustrieren. Die Tür zur Bücherwelt tatsächlich geöffnet hat mir schließlich Boy Lornsen. Mit ihm hab ich in der Folgezeit oft zusammengearbeitet. Und viel gelernt hab ich von ihm. In meiner Arbeit und als Mensch.

Bei der Illustration von Büchern folgen Sie einem hohen pädagogischen und humanistischen Anspruch. Wie viele Anfragen zu Buchillustrationen müssen Sie ablehnen?

Ach, das hält sich in Grenzen. Vielleicht hat sich herumgesprochen, dass ich kaum noch die Texte anderer illustriere. Weil sich vor fast dreißig Jahren zu meinem Spiel mit Stiften, Pinseln, Farben und Formen auch das Spiel mit Worten gesellte.

Ihre eigenen Texte illustrieren Sie aber nicht unbedingt? Ihr Geschichtenbuch »Vom Fischer, der ein Künstler war: 30 kleine Geschichten für große Gedanken« (Mixtvision Verlag 2011) wurde beispielsweise von Alexandra Junge bebildert …

Stimmt. Ich hätte es schon gern selbst illustriert. Wie die meisten meiner Bücher. Hatte auch ein Gestaltungskonzept entwickelt. Das allerdings hatte den Verlag – im Gegensatz zu den Geschichten – nicht überzeugt. Schade. Aber ich bin dankbar dafür, dass Alexandra Junge meinen Geschichten wunderbare Bilder geschenkt hat.

Neben Buchillustrationen fertigen Sie aber auch Kunstobjekte an, teilweise aus Abfallprodukten oder Fundstücken. Wo stellen Sie diese aus?

Ja, ich raube mir immer wieder Zeit für die freie Kunst. Sie hat im Laufe der Jahre an Bedeutung gewonnen, neben der Arbeit an Gedichten, Geschichten, Illustrationen. Die meisten Materialbilder und Objekte befinden sich in meiner Obhut. In meiner Werkstatt, die ich Rumpelkammer nenne. Weil’s eine ist. Dann und wann präsentiere ich die Arbeiten im Rahmen einer Ausstellung. Beispielsweise im Dithmarscher Landesmuseum in Meldorf. Aber auch anderswo. Und ein paar Fotos gibt’s natürlich auch …
 


 

Herzlichen Dank! Wann und wodurch ist bei Ihnen das Schreiben hinzugekommen? Haben Sie nicht letztendlich Paul Maar diesbezüglich viel zu verdanken?

Ich hab gut zehn Jahre lang die Texte anderer illustriert. Dann wuchs der Wunsch, zu schreiben. Mir eine ganz und gar eigene Welt zwischen zwei Buchdeckeln zu schaffen. Meine erste Geschichte hat Boy Lornsen kraftvoll lektoriert. Sie ist nie erschienen. – Vor vielen, vielen Jahren war ich mit Paul Maar eine Woche lang auf Lesereise im Niedersächsischen. Wir lebten unter einem Dach. Paul lernte meine damals noch unveröffentlichten Gedichte kennen und machte mir Mut. Ich möge das Schreiben nicht vernachlässigen. Viele Jahre später schrieb er das Vorwort in meinem »Reime-Eimer«. Der enthält 8 x 8 Gedichte für kleine und große Menschen von 8 bis 88.

Ich lebe an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste. In dieser kargen Landschaft ist immer noch – von Zeit zu Zeit zumindest – das selten gewordene Geräusch der Stille zu hören.

Man liest, »wortreiches Geplapper« sei Ihnen »ein Gräuel« (deshalb auch diese knapp gehaltenen Fragen ;-) ). Sind Sie eher ein schweigsamer Mensch?

Ich lebe an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste. In dieser kargen Landschaft ist immer noch – von Zeit zu Zeit zumindest – das selten gewordene Geräusch der Stille zu hören. Und ich glaube schon, dass das Menschen prägt. Auch mich. Ich höre gern die Worte anderer. Kann durchaus schweigen. Rede aber auch. Manchmal sogar erstaunlich viele Sätze …

Mir fällt auf, dass überdurchschnittlich viele Kinderbuchautoren nicht in den sogenannten sozialen Medien aktiv sind. Aus Überzeugung oder aus Zeitgründen?

Mich reizt es einfach nicht. Ich pflege meine Homepage, das genügt mir.

Sie machen ja viele Lesungen an Schulen und mit Kindern. Was war Ihr bemerkenswertestes oder witzigstes Erlebnis in diesem Zusammenhang?

Oh, da gibt es viele besondere Begegnungen. Ich denke etwa an eine Jugendbuchwoche in der Braunschweiger Ecke. Ich war alle Jahre wieder eingeladen und hatte alle Jahre wieder dieselbe Klasse vor mir. Ein Mädchen fiel mir schon beim ersten Mal auf. Sie ging damals in die dritte Klasse, ließ sich mehr als andere begeistern und überraschte mich mit wunderbaren Kommentaren. Jahre später – als Siebtklässlerin – sagte sie mir, sie sei durch mich zum Lesen gekommen. Das mag ich kaum glauben. Aber wer weiß …

Welche Buch-Illustratoren sind Ihnen Inspirationsquelle?

Es gibt diverse Illustrator*innen, die ich sehr schätze. Inspiriert haben mich aber in erster Linie Künstler wie Max Ernst, Paul Klee, auch René Magritte …

Welches ist Ihr persönliches Lieblingsgedicht von einem anderen Dichter?

Es fällt mir schwer, nur ein Gedicht zu nennen. Aber es gibt ein Stück für Stimmen, das ich liebe. Seit Jahren schon. »Unter dem Milchwald« von Dylan Thomas. In der kongenialen Übersetzung von Erich Fried.

Welches ist Ihr Lieblingsgedicht aus eigener Feder (oder zumindest eines davon?)

Darf ich zwei nennen?
Ein aktuelles, noch unveröffentlichtes. Für Erwachsene.
 

Vater unser
der du bist
im Licht der Sonne
im Flüstern des Windes
im Morgenlied der Amsel
im Duft des Grases
im Purpurrot der Rose
im Himmelsblau
im Plätschern des Wassers
im Kuss
der du bist
im Dunkel der Nacht
im Sturmgebrüll
im Gift der Lüge
in der Drohne, im Schwert
im Schrei der Verzweiflung
im Geruch der Erde, blutgetränkt
im Hunger, im Durst
im Hass
Vater unser
wo bist du?
 

Und eines aus meinem »Reime-Eimer«. Auch für Kinder. Es könnte als Motto über meinem Leben stehen.
 

Schicksal

Das Blatt Papier, noch unbeschrieben,
wäre gern so weiß geblieben,
geriet jedoch in meine Hände –
und mit der Weißheit war’s zu Ende.
 

Woran arbeiten Sie gerade?

Es gibt zwei Buchprojekte. Zwei vage Konzepte. Da ist eine Geschichtensammlung, die nach Bildern verlangt. Und da ist ein Bilderbuch, ganz und gar ohne Worte. In den nächsten Wochen wird sich – so hoffe ich – klären, welchem Projekt ich mich zuerst zuwenden werde.

Lieber Manfred Schlüter, ganz herzlichen Dank.

 
Manfred Schlüter
Am Anfang, sagte der Apfel

Etwas andere Geschichten von der Schöpfung von A bis Z
Bibliothek der Provinz, Weitra 2016
Hardcover, 56 Seiten
ISBN 978-3-99028-544-2

Manfred Schlüter
Der Reime-Eimer

Boje-Verlag, Köln 2006
Hardcover, 96 Seiten
ISBN 9783414820099

Der Titel ist vergriffen, kann jedoch zum Preis von 5,00 € plus 3,00 € Pauschale für Verpackung und Versand direkt beim Autor käuflich erworben werden.


 
Manfred Schlüter nimmt an der Jubiläums-Lesung am 18.11.2017 in Schleswig teil.

 

Franziska Röchter. Foto: Volker Derlath

Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.


Die »Internationale Jubiläumslesung mit 60 Poetinnen und Poeten« zur Premiere des 25. Jahrgangs von DAS GEDICHT (»Religion im Gedicht«) ist eine Veranstaltung von Anton G. Leitner Verlag | DAS GEDICHT in Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Mit Unterstützung der Stiftung Literaturhaus. Medienpartner: Bayern 2.

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Literaturhaus München


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