Lockdown-Lyrik 2.0 / 029: »Luft – ჰაერი« von Irma Shiolashvili

»Lockdown-Lyrik 2.0! Quarantäne poetisch ausleuchten – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« ist eine Online-Sammlung von Gedichten, die sich mit der Corona-Krise befassen. Es darf uns weiterhin die Sprache nicht verschlagen! In loser Folge erscheinen neue Episoden der nun von Sabine Schiffner, Anton G. Leitner, Alex Dreppec und Fritz Deppert herausgegebenen Anthologie (Dank an Jan-Eike Hornauer für die Mitherausgeberschaft bei Folge 1-154).

 

Irma Shiolashvili

Luft

Dieses Fenster ist schon vor langer Zeit zugegangen.
Nachdem ich aufgehört habe, Märchen zu erzählen
und in die Wirklichkeit eingetreten bin.
Nachdem meine Kinder groß geworden sind
und ein eigenes Leben angefangen haben,
eigene Bücher entdeckt haben und eigene Filme,
begruben sie die Märchen ihrer Mutter
tief in ihren Herzen und vergaßen sie.

Wir sitzen alle in einem Zimmer und merken,
wie schwer die Luft geworden ist.
Gleichzeitig werden wohlgemeinte Lügen und harte Wahrheiten
miteinander vermischt.
Wir sitzen alle in einem Zimmer und merken,
wie schwer die Luft geworden ist,
wie schwer diese gelebte Luft geworden ist.
Wie sehr würde es uns alle verändern,
wenn wir das Fenster aufmachten,
das Fenster ein einziges Mal aufmachten
und hinunterschauten auf diese Erde,
die einen Geschmack von Vergangenheit hat,
und die auf die aus dem Fenster in die Luft geworfenen und
aus sauberem Papier gefalteten Schwalben wartet
und daran glaubt, dass,
wenn wir sie lieben werden,
der Geschmack der Märchen mit der Luft zu uns zurückkehrt.

 

ჰაერი

ეს ფანჯარა დიდი ხნის წინ დაიხურა.
მას შემდეგ, რაც ზღაპრების მოყოლა დავასრულე და
რეალურ ამბებში შევაბიჯე.
მას შემდეგ რაც შვილები გაიზარდნენ და
საკუთარი ცხოვრება დაიწყეს,-
საკუთარი წიგნები აღმოაჩინეს
და საკუთარი ფილმები,
ხოლო დედის ზღაპრები
გულის კუნჭულში დამარხეს და გადაივიწყეს.

ვსხედვართ ყველა ერთ ოთახში
და ვამჩნევთ, რომ ჰაერი დამძიმდა,
ერთდროულად ირევა ერთმანეთში
კეთილი ტყუილები და მკაცრი სიმართლე.
ვსხედვართ ყველა ერთ ოთახში
და ვამჩნევთ, როგორ დამძიმდა ჰაერი,
როგორ დამძიმდა ეს ნაცხოვრები ჰაერი და
როგორ შეგვცვლიდა ყველას ფანჯრის გამოღება,
ფანჯრის ერთადერთხელ გამოღება და
გადახედვა იმ დედამიწისკენ,
რომელსაც წარსულის გემო აქვს,
რომელიც ელოდება ფანჯრიდან გაშვებულ
ქაღალდის მერცხლებს
და სჯერა რომ თუ შევიყვარებთ,
ჰაერთან ერთად ზღაპრის გემოც დაგვიბრუნდება.

 

© 2020 Irma Shiolashvili, Bonn
(Übersetzung aus dem Georgischen: Joachim Britze
Redaktion: Sabine Schiffner)

 

 

Lockdown Lyrik 2.0. Wir hatten gehofft, dass es zu keinem zweiten Lockdown mehr kommen würde. Aber jetzt ist er angeordnet, der sog. »Wellenbrecher-Lockdown«. Er beginnt in Deutschland ab Montag, den 2. November 2020 – mit der Aussicht auf triste Herbst- und Wintertage. Grund genug für die Redaktion der Jahresschrift DAS GEDICHT, ihre vieldiskutierte Netz-Anthologie zur Corona-Krise vom Frühjahr 2020 wieder hochzufahren. Möge diese Online-Sammlung zur Pandemie uns allen einmal mehr dabei helfen, tief Luft zu holen und möglichst viele Aspekte der weltweiten Katastrophe mit dem Instrumentarium der Lyrik auszuleuchten, damit wir und unsere Leserinnen und Leser mental nicht unter die zweite Welle geraten!

Sabine Schiffner, Alex Dreppec, Fritz Deppert und Anton G. Leitner
 
PS: Alle bereits geposteten Folgen von »Lockdown-Lyrik! Quarantäne querdenken – etwas ernst zu nehmen heißt nicht, sich davon unterkriegen zu lassen« finden Sie hier. In loser, jedoch zügiger Folge wird die Sammlung erweitert.

 

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