Wiedergelesen – Folge 16: »Das blaue Licht« von Hertha Kräftner

Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.

 

Kaum mehr als hundert Gedichte, ein Romanentwurf, der schon mit dem Arbeitstitel »Notizen zu einem Roman in der Ich-Form« seine Vorläufigkeit zu erkennen gibt, außerdem ein paar Erzähltexte, zum größeren Teil ebenfalls Fragmente geblieben, und schließlich Tagebuchnotizen, darunter das »Pariser Tagebuch«: Das alles reicht gerade aus für ein sehr schmales Werk, das am 13. November 1951 zu einem jähen Ende kam. Denn an diesem Tag tötete sich Hertha Kräftner mit einer Überdosis Veronal. Es war ein vorbereiteter Selbstmord, der wahrscheinlich trotzdem ein Hilfeschrei gewesen ist. Gerade weil im Nachhinein so viele die Deutungshoheit über diesen Tod für sich beanspruchten, möchte ich mich hier auf Hertha Kräftners Sätze im Abschiedsbrief an die Mutter beschränken: »Es ist einfach so, dass ich viel zu traurig und müde bin, um noch leben zu wollen.« Das muss man als eine sehr endgültige Feststellung akzeptieren, es ist stärker als alle psychoanalytischen Deutungsmuster, für die ihr Leben und Ende herhalten mussten, stärker auch als die Vor- und Nachworte, die das hinterlassene Werk der Autorin seitdem eingerahmt haben. Hans Weigel, der große Förderer der burgenländischen Schriftstellerin, nannte Hertha Kräftner, deren Tod er wohl als persönlichen Affront empfand, ziemlich harsch eine »Selbstmörderin auf Urlaub«. Wie kein anderes Urteil ist dieses geblieben von ihrer Existenz: eine Männer-Invektive, die der nicht mehr Greifbaren auf Dauer angeheftet wurde.

Selbst wenn sich ein derartiger Eindruck aufdrängt, war Hertha Kräftner zu Lebzeiten keine literarische Außenseiterin gewesen. Eher im Gegenteil: Kaum zwanzigjährig, ließ sie mit ersten Gedichtveröffentlichungen aufhorchen und fand rasch Anschluss an die entscheidenden Wiener Zirkel. Der Schatten des Depressiven, der sie begleitete, wurde trotzdem immer schwärzer. Dine Petrik ist diesem Schatten in ihrem hochsensiblen Buch »Die Hügel nach der Flut. Was geschah wirklich mit Hertha K.?« (Otto Müller Verlag, Salzburg und Wien 1997) nachgegangen und legt ihren Lesern nahe, dass Hertha Kräftner von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt worden ist und der hinzukommende Vater, der das Geschehen zur Anzeige bringen wollte, dabei tödliche Verletzungen erlitt. Das alles war damals sicherlich mit einem Tabu belegt. Es konnte und durfte nicht Sprache werden. Für das furchtbare Geschehen, falls es so stattgefunden hat, bleiben uns deshalb nur Anhaltspunkte. Hinzu kommt, dass das literarische Werk von Hertha Kräftner ohnehin kein erinnertes Abbild einer wie immer gearteten Wirklichkeit sein will. Allenfalls ein paar Einsprengsel lassen sich biographisch deuten, anderes ist von der Autorin bewusst verfremdet oder in einer gesteigerten Wahrnehmung verändert und neu strukturiert worden.

Erst spät, nämlich zwölf Jahre nach dem Tod von Hertha Kräftner, erinnerte bei Stiasny in Graz unter dem Titel »Warum hier? Warum heute?« ein Büchlein an die Dichterin. Otto Breicha und Andreas Okopenko sorgten dann 1977 mit einer Ausgabe in der Edition Roetzer in Eisenstadt dafür, dass ihr Werk nicht ganz dem Vergessen anheimfiel. 1991 nahm sich der Wiener Frauenverlag unter dem effektheischenden Titel »Die grausamen Morgen. Die fremden Länder meines eigenen Lebens« der Literatur von Hertha Kräftner an und 2001 kam schließlich bei Wieser in Klagenfurt noch ein Nachlassband mit Gedichten, Prosa und Briefen heraus. Dieses Buch »Kühle Sterne« steht am vorläufigen (?) Ende der Rezeptionsgeschichte von Hertha Kräftner. Wenigstens die regionalen österreichischen Verlage haben sich um ihr Werk verdient gemacht. In Deutschland, wo die Autorin bis heute nahezu unbekannt ist, blieb es bei nur einem Buch: »Das blaue Licht«, so war der Band 334 der Sammlung Luchterhand betitelt, der 1981 erschien. Er fußte auf der Eisenstädter Ausgabe vier Jahre zuvor und überraschte mit einem Nachwort von Peter Härtling, das sich – wie vieles, was über Hertha Kräftner geschrieben wurde – weit hineinwagt in den Bereich der poetischen Einfühlung und Spekulation. Das schmale Taschenbuch, auf das ich damals eher zufällig stieß, hat mir, wofür ich bis heute dankbar bin, die Welt der Autorin, vor allem die Welt ihrer Lyrik geöffnet.

Das Bändchen beginnt mit 30 ausgewählten Gedichten, wobei die Herausgeber Otto Breicha und Andreas Okopenko an den Anfang den seitdem viel zitierten Text »Abends« gestellt haben, nicht das stärkste Gedicht von Hertha Kräftner, aber ein unerhört modernes. Denn hier wird – meines Erachtens erstmals in der deutschen Lyrik – verwundert-genau die Gewalttätigkeit eines Mannes gegenüber einer Frau aus der Perspektive der Frau thematisiert. »Er schlug nach ihr« heißt es lapidar in der ersten Zeile und die letzten beiden Zeilen machen klar, das sich die Gewalt von nun an wiederholen wird: »Sie fühlte nur den Schlag vom nächsten Tag / voraus und sie begriff auch diesen nicht.« Das Unbegriffene, das erschreckende Muster hinter der Tat – von Hertha Kräftner wird es analytisch genau begriffen. Andere Gedichte, die den »Steinernen Engel« beschwören, nehmen ganz bewusst den Anrufungs- und Reihenduktus von Litaneien auf, bekennen sich schon im Titel zu dieser Form aus der katholischen Welt. Ob das ausreicht, um die Autorin in die Tradition großer europäischer Mystikerinnen zu stellen, wie das gelegentlich versucht wurde? Ich weiß es nicht. Mich haben mehr die kühnen Bilder fasziniert, die aus diesen Anrufungen immer wieder »ausbrechen«: »Fledermausflügel, ruhelos zuckend im Dachbodendunkel« oder »Springender Tod in der schmalen Pupille der ruhenden Katze«. Manches bei den Gedichten, wenn Hertha Kräftner beispielsweise die »Zeit des lauwarmen Verfalls« beklagt, ist Nachklang von Georg Trakl. Da wird der literarische Übergang deutlich, in dem sich die Dichterin befand und der sie schon bald zu sprachskeptischeren, wirklichkeitsnäheren Gedichten führt. Je länger man sich in diese Lyrik einliest, umso deutlicher tritt die entwaffnende Lakonie der Autorin zutage, mit der sie etwa im »Strandbad« die nackten Füße des Geliebten beschreibt: »Und langsam wurde er ihr fremd / mit seinen fremden Zehen / und sie weinte um die langen Jahre, / um jene Mund an Mund vertanen Jahre.« Diese Gedichte wie einige andere deuten schon Jahrzehnte voraus in eine ganz andere poetische Welt. Nicht verwunderlich bei einer jungen Frau, die den Krieg mit all seinen nachfolgenden Schrecken erlebt hat, ist die starke, oft alptraumhafte Fixierung auf den Tod. Ganz anders dagegen die folgenden Zeilen. Sie zeigen, dass Hertha Kräftner, die bald danach den Freitod suchen wird, auch ein Gelächter für ihren ständigen Begleiter bereithielt: »Ach, der Tod wird nach Pfeffer / und Majoran riechen, / weil er vorher im Laden bei Krämer saß, / der am silbrigen Schwanz / eines Salzherings erstickte.«

 

Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath
Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath

»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.

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