Wiedergelesen – Folge 26: »Autoren sehen einen Autor« und »Unaufhaltbar« – Nicht nur von Walter Helmut Fritz

Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.

 

Walter Helmut Fritz – wer diesen Allerweltsnamen trägt, erst recht wenn er als Schriftsteller tätig ist, gerät leicht in Versuchung, sich ein Pseudonym zuzulegen. Für Walter Helmut Fritz dürfte sich diese Frage nie wirklich gestellt haben. Der 1929 in Karlsruhe Geborene lebte in einem engen Radius, der allenfalls bis Heidelberg und Frankfurt reichte, obwohl der Autor weite Reisen unternahm und neugieriger auf andere Kulturen war als viele seiner scheinbar weltläufigeren Kollegen. Ihn interessierten weder Modethemen noch die politischen Auseinandersetzungen der Zeit. Sein Blick galt eher dem Beiläufigen und Unauffälligen; besonders in den Gedichten ist es ein gelassener Blick, der aus einer meditativen, häufig elegischen Grundstimmung erwächst. Die »poetischen Zwischenbemerkungen« von Walter Helmut Fritz verraten den distanzierten und trotzdem mitfühlenden Beobachter. Das Leise, Lakonische bei ihm steht in einem deutlichen Gegensatz zum überbordenden Selbstbewusstsein und der Lust am Provozieren bei manchen Autoren, die fast zeitgleich an die Öffentlichkeit traten, etwa Enzensberger oder Rühmkorf. Ihnen wäre es nie eingefallen, ihren ersten Gedichtband wie Walter Helmut Fritz im Jahr 1956 »Achtsam sein« zu betiteln – lange bevor dieses Wort zur billigen Münze in der Weltverbesserungsliteratur wurde und seine Dignität einbüßte. Wer nach deutschen Lyrikern Ausschau hält, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ähnlich unaufdringlich und mit gleicher Bildkraft schrieben, wird am ehesten fündig bei der späten Elisabeth Borchers, bei Peter Härtling und vor allem bei Rainer Malkowski. Sie haben sich, ohne je eine Schule zu bilden, dem Badener Autor innerlich nahe gefühlt und diese Nähe auch literarisch zu Protokoll gegeben.

Ich bin Walter Helmut Fritz nie begegnet, vielleicht aus Scheu gegenüber dem Lyriker und seiner so zurückhaltenden Meisterschaft. Damals, in den siebziger Jahren, enthielt die längst untergegangene Wochenzeitung »Rheinischer Merkur« für kurze Zeit und fast unbemerkt eigene Lyrikseiten. Auf einer der Seiten stellte Walter Helmut Fritz meine gerade entstandenen Erstlinge vor: eine Auszeichnung, die mich verlegen und etwas sprachlos machte. Meinen nie ausgesprochenen Dank kann ich wenigstens jetzt, freilich viel zu spät, mit diesem Blog abstatten. Mittlerweile gehört Walter Helmut Fritz fast schon wieder zu den großen Unbekannten in der deutschen Lyrik. Anlässlich des achtzigsten Geburtstag des Autors brachte sein Hamburger Hausverlag noch eine Werkausgabe in drei Bänden heraus, wobei der erste Band in chronologischer Reihenfolge alle Gedichtbücher des Autors erfasst, während die anderen beiden Bände die Prosa mit den heute nur noch literaturhistorisch interessanten Romanen, außerdem die Hörspiele, Theaterstücke und Aufsätze enthalten. Seitdem ist, soweit ich es sehe, kein Buch mehr von dem 2010 verstorbenen Dichter wiederaufgelegt worden. So geraten selbst unbestrittene, zeit ihres Lebens bewunderte Lyriker ins literarische Abseits und tauchen mit ihren Texten allenfalls noch in Anthologien auf. Das »Vielfältigkeitswunder« des Internets kann hier nicht ersetzen, was die zeitgenössische Verlagsproduktion den nachwachsenden Lesern vorenthält…

Wenn ich richtig gezählt habe, erschienen von Walter Helmut Fritz zwischen 1956 und 2003 insgesamt 21 selbständige Lyrikbände, nicht eingerechnet sind dabei die Auswahlbände, unter ihnen die erfrischend unprätentiösen »Liebesgedichte«, die Matthias Kußmann 2008 zusammengestellt und zu denen Michael Krüger ein Vorwort beigesteuert hatte. Das ganze Werkverzeichnis von Walter Helmut Fritz abzuarbeiten, würde diesen Blog sprengen. Stattdessen will ich mich auf zwei Bücher (eines davon eher ein Heft) beschränken. In ihrer Reihe »Autoren sehen einen Autor« edierte die Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, deren Vizepräsident Fritz gewesen ist, 1999 einen Band mit ausgewählten Gedichten und Prosa des Dichters. Die Zusammenstellung der Texte besorgte damals Rainer Malkowski, als Verlag fungierte die Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Die Liste der Beiträger in diesem Buch reicht von Hans Bender über Ludwig Harig und Wulf Kirsten bis zu Herbert Rosendorfer, Helga Schütz und Arnold Stadler. Sie alle stellen ihre sehr persönlichen Lieblingstexte von Walter Helmut Fritz vor – und kommentieren sie gleichzeitig mit der notwendigen Behutsamkeit, die dem Leser die eigene Einfühlung nicht abnimmt. Einen besseren Einstieg in das Werk des Autors lässt sich kaum denken. Berühmte Texte stehen in dem Band neben Unbekanntem, beiläufig Notiertes neben Programmatischem. Natürlich durfte dabei auch das Gedicht auf Giorgio Morandi nicht fehlen, dessen Schlusszeilen eine für den Maler wie für den Schriftsteller gleichermaßen aufschlussreiche Bilanz ziehen: »Ich habe das Glück gehabt / ein ereignisloses Leben zu führen.« Die Auswahl der Texte sagt im Übrigen genauso viel aus über den Dichter wie über seine auswählenden Kollegen. Wulf Kirsten entschied sich beispielsweise für das Gedicht »SPÄT«. »Wie rasch es Winter ist / unter den Worten.« Und Eckart Kleßmann macht auf eines der schönsten Morgengedichte der deutschen Literatur aufmerksam. Es trägt den Titel »DEIN SCHRITT« und endet mit den Versen: »Der Tag wächst als helles Profil / über den Weg. // Die Luft / ist ein Frühstück.« So könnte man Beispiel an Beispiel, Bild an Bild reihen und würde damit doch nicht das Rätsel lösen, wer dieser Lyriker war, der so gar kein Talent zum Polemiker hatte, dafür aber in der Beobachtung und Beschreibung seiner Welt eine höchst ausdifferenzierte Könnerschaft entwickelte.

Es gab nach dem Krieg ein paar Jahrzehnte, in denen Autoren ihre Gedichte sowohl in großen, für die Szene wichtigen Verlagen unterbringen konnten wie auch in lyrikspezialisierten Kleinstverlagen. Walter Helmut Fritz hatte noch die Wahl, in welche verlegerische Betreuung er seine Gedichte geben wollte. Mein Lieblingsbuch, wie bereits gesagt: eher ein schmales Heft von ihm, trägt den Titel »UNAUFHALTBAR« und erschien im Herbst 1988 in der Reihe »Roter Faden« (das muss man wörtlich nehmen, weil ein roter Faden die Seiten der Hefte zusammenhielt) des Warmbronner Verlages von Ulrich Keicher. Genau zehn Gedichte, alles Erstdrucke, sind darin versammelt, so auch ein Gedicht über eine Gewürzhändlerin im Basar, die am Abend »mit ausgebreiteten Armen / nach Hause fliegt, über Bauwerke, / die wie Pfefferbüchsen / überall in der Stadt stehen.« Oder das Gedicht über »SAMOS«, dessen so einfaches wie poetisch genaues Schlussbild mir gegenwärtig geblieben ist: »In Feigenbäumen blättert der Wind.« Unvergesslich auch die Reverenz an »ANNETTE«, die Dichterin, die »hoch über Meersburg / zurückfindet zu ihren Worten«. Mein Heft, erworben bei einem Chiemgauer Antiquariat, hatte der Autor Anfang 1989 dem Münchner Essayisten und Biographen Eberhard Horst zugeeignet, von dem ich selbst einmal einen Erzählband verlegt habe. So schließt sich der Kreis und es bleibt die Erkenntnis, wie vieles, was wir sammeln und hegen, eines Tages überallhin verstreut wird und zerfällt, auch unsere Bibliotheken. Die Gedichte von Walter Helmut Fritz, jedenfalls seine schönsten und wichtigsten, werden hoffentlich nicht im kulturellen Treibsand untergehen.

 

Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath
Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath

»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.

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