GIPFELRUF
Folge 23: Josef Wittmann

Josef Wittmann (*1950)

  • Lyriker aus München
  • www.josef-wittmann.at
  • Josef Wittmann ist ein Münchner Schriftsteller und Buchillustrator. Nach seinem schulischen Werdegang begann er 1971 eine Ausbildung zum Industriekaufmann in Berlin und machte Anfang der 70er Jahre die Bekanntschaft mit dem Feldafinger Verleger Friedl Brehm. Bis 1981 arbeitete er zusammen mit Friedl Brehm an der Literaturzeitschrift »Schmankerl«, ab 1972 hielt er Lesungen, veröffentlichte Anthologiebeiträge und Buchillustrationen. 1973 zog er zurück nach München, wo er bis 1977 am KEKK (Kabarett und Engagierte KleinKunst) mitarbeitete. 1976 war Josef Wittmann eines der Gründungsmitglieder des IDI (Internationales Dialektinstitut). In den 70er Jahren trat er u. a. gemeinsam mit Biermösl Blosn, Guglhupfa und Fraunhofer Saitnmusi auf. 1984 war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift »Föhnix«.
    Josef Wittmann ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller und wurde im Jahr 2000 zum Mitglied der Münchner Turmschreiber berufen. Neben zahlreichen Abdrucken in Schulbüchern, Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien entstanden Bücher, Theaterstücke und Szenen (u. a. »kuacha & kafä«, »Hansl, Grädl & Co«, »unsere scheene koide hoamat«, »Halt’s Maul Bauernfünfer«, »Höchste Eisenbahn« u. v. a.).Zu Josef Wittmanns jüngsten Veröffentlichungen gehören »Bluadiga Gams. Gedichte« (Liliom Verlag, 2010) und die Übersetzung von Walter Bargens »Endearing Ruins / Liebenswerte Ruinen. Poems / Gedichte« (Liliom Verlag, 2012).

Der Schriftsteller und Buchillustrator Josef Wittmann gehört zu den Teilnehmern des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« am 23.10.2012 in München. Für dasgedichtblog reflektiert der bayrische Mundart-Lyriker die Mühen der Poesie.

Zwei Jahrzehnte lyrische Sisyphusarbeit

von Josef Wittmann

20 Jahre! Das ist eine lange Zeit für den, der den schweren Stein den Berg hinauf rollt. Ach was: rollt! Kantig ist das Biest, verhängt sich dort und da, gräbt sich in die Erde, verhängt sich im Gestrüpp, verlangt bei jeder Wendung aufs Neue alle Kraft und lohnt sie mit einem kurzen, harten Rumpler, nach dem es wieder unbeweglich, starr wie festgemauert, satt am Boden liegt. Verständlich, dass der, dessen Schweiß bei dieser Mühe vergossen, dessen Kraft dabei verbraucht worden ist, dringend einmal innehalten und zurückschauen muss: Was hat sich nun verändert? Was hat der ganze Einsatz gebracht? Sieht man den Fortschritt? Und wenn es einen gibt: ermuntert er zum Weitermachen?

Wenn ich die Welt, in der wir leben, als Berg betrachte und die Lyrik, um die wir uns bemühen, als Stein, sehe ich: Damals, vor 20 Jahren, war gerade der »Eiserne Vorhang«, der eine Generation lang die Welt in zwei feindliche Hälften geteilt und alles mit dem »Kalten Krieg« bedroht hatte, beseitigt worden. Wir konnten Grenzen überschreiten, die lang mit Stacheldraht und Todesstreifen gesichert waren. Seinerzeit hofften wir, nicht nur der Handel mit Geld und Waren, sondern auch das gesprochene Wort könnte die alten Gräben überwinden, könnte die Menschen zusammenbringen, alle Menschen überall. Und natürlich hätten wir der Lyrik dabei eine wichtige Rolle zugedacht, dieser wunderbar menschlichen Äußerung, die Emotion und Intellekt vereint, die um das Animalische und um das Geistige, um das Gute und das Böse, um das Schöne und das Furchtbare weiß und beides zeigen kann.

Der Berg hat sich seitdem verändert. Daran waren größere Mächte und gewaltsamere Mittel beteiligt, als jemand, der einen Stein wälzt. Sie haben das Leben der Menschen verändert, ihren Sorgen eine neue Richtung gegeben, sie haben der Kommunikation neue Wege eröffnet und damit auch die Sprache und das Denken beeinflusst. Sagen wir so: Das Tal und die besiedelten Bergflanken sind in diesen 20 Jahren ziemlich radikal umgeformt worden. Der gepriesene globale Markt hat die nationalen Volkswirtschaften zu Schrebergärten gemacht, die entfesselte Finanzwirtschaft hat die Staaten geplündert. Die Menschen haben nach dem Glauben an Gott auch ihre gesellschaftliche Stellung verloren. Die Staaten handeln unter dem Diktat der weltweiten Finanzspekulation und nicht mehr nach dem Willen wählender Völker. Die Sprache ist bei diesen sehr schnellen Umwälzungen ein viel zu langsames Mittel, sie ist durch den hochfrequenten Datenaustausch zwischen autonom handelnden Maschinen verdrängt worden. Menschen hasten den dadurch geschaffenen Fakten hinterher. Verstehen können sie längst nicht mehr, was läuft.

Unser Stein hingegen ist immer noch der Stein, der er war. Gut, der eine oder andere Scherben ist abgebrochen, da und dort ist etwas neue Erde hängengeblieben, aber im Großen und Ganzen ist unsere Lyrik die der Lyriker von vor 20 Jahren. Bitte nehmt mir diesen Satz nicht übel, Leander Beil, Marius Hulpe, Nadja Küchenmeister, Anna Voltz, damals habt ihr noch nicht mitgeschrieben. Aber reicht das als Beweis, dass sich etwas geändert hat? Die Kriterien, nach denen wir uns richten, sind beständig.

Immer noch finde ich wegweisend, was Christoph Buchwald im Anhang des 25. Jahrbuches der Lyrik (Frankfurt, 2007) geschrieben hat: »Der zeitliche Abstand schärft den Blick, wir sehen Jahre später deutlicher, was modisch, politisch opportun, an der Oberfläche schwimmend, klischierter Wohlklang, oder einfach nur poëtelnd ist.« Kein ernsthafter Lyriker möchte sich einer so einleuchtenden Kritik entziehen, möchte Werke schaffen, die kein Gewicht haben. Niemand möchte sich nachsagen lassen, er habe Klischees zu Gedichten verarbeitet. Niemand möchte die Ästhetik seiner Texte als Oberfläche entlarvt wissen, jeder strebt nach Tiefe, wenn es sein muss um den Preis der Allgemeinverständlichkeit. Authentizität ist angesagt, zur Not bis zur letzten, unangreifbaren, privaten Position. Und in diesem ganz nach innen gerichteten Horchen spielt es auch eine untergeordnete Rolle, ob ein anderer noch folgen kann.

Wir sind mit unserem Stein also weit oben am Gipfel des Berges angelangt. Wir streben eine kompromisslos echte, sehr tief ins Menschliche des Daseins blickende Lyrik an. Nicht erst seit gestern. Auch vor 20 Jahren war die Ära des zeitkritischen Gedichts schon Geschichte, war es nicht mehr opportun, mit poetischen Mitteln Stellung zur realen Welt zu beziehen. Die für einen Bertolt Brecht noch selbstverständliche Auseinandersetzung mit dem Elend, mit der Ungerechtigkeit, mit der Irreführung der Menschen ist heute kein zulässiges Thema der Lyrik mehr. Aber auch das Lob der Naturschönheiten, wie es vielen Gedichten z. B. von Martin Hausmann genügte, geht nicht mehr. Da oben, nahe am Gipfel, sind wir auf jeden Fall weit weg. Von der Natur und von den Leuten unten an den besiedelten Hängen, die sich um den Ölpreis und die Stromversorgung, um die Sicherheit des Arbeitsplatzes und die Inflation, um Kindergartenplätze und die Ehre des Bundespräsidenten kümmern. Bis zu uns hinauf blicken sie nie, und darum können wir, von ihnen aus, machen was wir wollen.

Diese Gipfelposition fern der bewohnten Lagen teilen wir übrigens mit den zeitgenössischen Malern und Bildhauern und mit den zeitgenössischen Komponisten ernster Musik. Wir alle, die tapfer die Steine der Gegenwartskunst voranwälzen, tun das in glanzvoller Isolation, zusammen mit Kolleginnen und Kollegen, die das Gleiche tun und sich selber meinen, wenn sie einem Werk Beifall spenden. Die Talbewohner aber meiden uns, teils respektvoll (ist mir zu hoch), teils aber auch mit zorniger Verachtung (lauter Verrückte). Sie haben ihren eigenen Zugang zum Bild (Werbung), zur Musik (Pop-Hits) und zur Literatur (Regionalkrimis).

Abschied vom Elfenbeinturm? Abstieg vom Gipfel? Es muss in der Vielfalt der heutigen Medienlandschaft Wege geben, wie man das, was da oben vor sich geht, ohne Niveauverlust für die Bewohner der besiedelten Hänge sichtbar macht. Wenn ich an den Lyrik-Marathon anlässlich des 2. ökumenischen Kirchentags denke, wenn ich an die »Lyrik-Mail« von Gregor Koall denke, der immerhin 2.500 Tage lang bis zu 15.000 Abonnenten mit der täglichen Dosis Poesie versorgt hat, wenn ich an die diversen Literatur-Blogs denke, habe ich eine ungefähre Vorstellung davon, wie die Begegnung möglich wäre. Es darf uns auch noch etwas besseres als der Poetry-Slam einfallen, obwohl das von der Kinderkrippe an mit Wettbewerb und Ranking erzogene Publikum schon sehr gerne auch unter Dichtern einen Sieger bestimmen möchte.

Mir ist klar, dass die Begegnung mit dem Publikum nicht ohne Wirkung auf die Werke bleibt. Das muss nicht schlecht sein. Ohnehin besteht die Gefahr, dass der besiedelte Teil des Berges bei der Rasanz der Veränderung zunehmend unverständlich wird für jene am Gipfel. Um im Bild zu bleiben: Wenn das gegenseitige Desinteresse groß genug ist, kann es durchaus sein, dass bei großen Planierungsarbeiten die Steinewälzer unterm Gipfel vergessen werden und sie im Schutt der Umbaumaßnahmen versinken. Nach dem Großen Brockhaus und der Encyclopædia Britannica gäbe es dann auch einfach keine Lyrik mehr.

Josef Wittmann
Bluadiga Gams. Gedichte

Liliom Verlag, Waging, 2010
96 Seiten
ISBN 978-3-934785-47-2
Euro 18,00 [D]

 




Das »Internationale Gipfeltreffen der Poesie: 20 Jahre DAS GEDICHT« ist eine Veranstaltung von Anton G. Leitner Verlag | DAS GEDICHT in Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München und dem Literaturhaus München. Die Veranstaltung wird vom BR für sein Fernsehprogramm BR-alpha aufgezeichnet (geplante Erstsendung: Samstag, 12. Januar 2013, 22.30 Uhr, Reihe »Denkzeit«, BR-alpha). Hugendubel.de unterstützt das »Internationale Gipfeltreffen der Poesie: 20 Jahre DAS GEDICHT« als Förderpartner.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert