Dichterbriefe – Folge 29: Das Gesicht des Abwesenden – Christophe Fricker schreibt Nancy Hünger

Christophe Fricker schreibt jeweils am 1. des Monats einem Dichterfreund, dessen Buch er gerade gelesen hat. Die Texte sind eine Mischung aus Offenem Brief zu Lyrik und Gesellschaft, bewusst parteiischer Rezension und vertrautem Austausch. Und damit hoffentlich auch weniger langweilig als Rezensionen, die ihre eigene Voreingenommenheit vertuschen.

 

Liebe Nancy,

eins habe ich letztes Mal vergessen zu sagen. Was mich bei Deinen Gedichten so erschüttert, ist das Menschliche. Nicht die viel zu leicht herausposaunte Menschlichkeit mit ihrer bürokratischen, bei Nacht ins Mordlustige kippenden Lust am Prinzipiellen, die jeden einzelnen Menschen nur deshalb schätzt, weil er auf ein Allgemeines zu beziehen ist. Nein, diese Menschlichkeit meine ich nicht. Ich meine sie nicht, denn mich stört, dass sie den Menschen nur als Individuum sieht und nicht als Singularität. Nur als Einzelfall, nicht frei.

Bei Deinen Gedichten also ist das anders. Du hast ein Gespür für den Menschen, Dein Gegenüber. Und das wird offenbar gerade dann besonders geweckt, wenn dieses Gegenüber sich Dir nicht von Angesicht zu Angesicht zeigt. Das will ich uns am Beispiel eines Gedichts vor Augen führen.

Du begibst dich, nicht allein, im Gedicht »pauschal« auf die Reise in ein Ferienparadies, und Du tust das ganz offensichtlich mit einer Mischung aus bildungsbürgerlich schlechtem Gewissen, Verzweiflung und wirklichem Erholungsbedürfnis. Diese schmerzhafte Mischung nennst du »Riss in unsren Köpfen«. Auf die Reise hast Du Dich akribisch vorbereitet. Du hast lange gespart und tauschst »vier Löhne gegen Land und / eine Sprache aus den Fernwehkatalogen«. Und Du hast Dir Werbefilme angeschaut, Du mit Deinem Begleiter oder Deiner Begleiterin – wir erfahren es nicht, wer hinter dem »wir« im Gedicht steckt (es geht uns auch nichts an, uns, jenes »wir«, von dem ich Dir auch nichts erzähle!). Werbefilme. Und Ihr seid auf Google Maps durch die Straßen gefahren. So intensiv habt Ihr Euch vorbereitet, so innig hofft Ihr, dass die Reise nicht zur Enttäuschung wird, dass Ihr zur Aufrechterhaltung dieser innigen Hoffnung technologische Mittel in Anspruch nehmt. Dagegen spricht nichts.

Wo ist aber da der Mensch, von dem eingangs die Rede war, in diesem Brief? Er ist auch bei Dir, im Gedicht über die Reise, eingangs da und am Ende da, indem er nicht da ist. Erst ganz passiv, nur als Handlanger einer Tätigkeit, die er so ausführt, dass sie eine Spur hinterlässt, in der er verschwindet. Es »wurde schon ein Bett für uns bezogen«, heißt es da, fast selbstbezüglich, während Ihr gerade im Flugzeug sitzt.

Erst dann ringst Du Dich dazu durch, nicht nur die Tätigkeit und ihre Spur, sondern den unsichtbaren Urheber, den unsichtbaren Menschen als Menschen zu sehen, der nicht unsichtbar ist, sondern ungesehen: »Eine unsichtbare Hand, die übers Kissen streicht / und nichts vom Riss in unsren Köpfen weiß.«

Und am Ende, nachdem Du Dich mit einer Mischung aus schlechtem Gewissen, Verzweiflung und wirklichem Erholungsbedürfnis an die Vorbereitung dieser aus denselben Gründen unternommenen Reise erinnerst, resümierst Du Eure Vorbereitungen, um dann auf den Ungesehenen zurückzukommen:

Wir waren informiert. Es gab nichts, das sich nicht
wissen ließ. Einzig welche unsichtbare Hand
dort draußen über unsere Kissen strich.

Und irgendwie ist genau das das Wunderbare an Gedichten – dass sie es vermögen, das Antlitz eines Menschen uns erscheinen zu lassen, der da sein sollte und nur irgendwie da ist, nicht aber in jenem erschütternd wirklichen Sinn. Gedichte sind nicht unmenschlich. Sie zeigen uns das Gesicht des Abwesenden.

Und wenn ich sage »Gedichte«, dann ist das eine solche Verallgemeinerung, dass es schon fast eine Lüge ist und vor allem, Dir gegenüber, eine ziemliche Unverfrorenheit. Denn natürlich tun das nicht alle Gedichte. Aber Deine.

Sei behutsam und über Ländergrenzen hinweg durch den virtuellen Raum von Wort zu Wort umarmt von Deinem
Christophe

 

Nancy Hünger
Ein wenig Musik zum Abschied wäre trotzdem nett

Gedichte
edition AZUR, Dresden 2017
Softcover, 118 Seiten
ISBN: 978-3-942375-28-3


 

Christophe Fricker. Foto: © Chiara Dazi
Christophe Fricker.
Foto: © Chiara Dazi

Christophe Fricker, geb. 1978, schreibt über die Möglichkeiten von Freundschaft, die Grenzen des Wissens und die Unwägbarkeiten der Mobilität. Mit Tom Nolan und Timothy J. Senior veröffentlichte er den zweisprachigen, illustrierten Gedichtband »Meet Your Party«. 2015 gab er die »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung« zwischen Ernst Jünger und André Müller heraus, die das Deutschlandradio eine »Sensation« nannte. Frickers Buch »Stefan George: Gedichte für Dich«, eine Einführung in das Werk Georges, stand auf Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste. Für den Gedichtband »Das schöne Auge des Betrachters« wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet. Alle bereits erschienenen Folgen von »Dichterbriefe« finden Sie hier.

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