Fremdgehen, jung bleiben – Folge 18: Sandra Blume

Junge Lyrik sieht sich selbst oft als eine Quelle der Innovation. Die Schnelllebigkeit der modernen Sprache, die Vielfalt der heutigen Gesellschaft mit all ihren frischen Einflüssen aus Ost, West, Süd und Nord verändern auch die Literatur tiefgreifend. Und so legt Leander Beil an jedem 8. des Monats den Fokus auf das kulturell und sprachlich Andere, das vermeintlich Fremde in der noch jungen Textwelt. »Fremdgehen, jung bleiben« nimmt jeweils einen Text oder Textausschnitt unter die Lupe und spielt essayistisch mit diesem – ohne den Spielregeln einer starren Analyse zu folgen.

 

Immer nur interpretieren, interpretieren und wieder interpretieren. Geht das nicht manchmal am Kern der Dinge vorbei? Den geschichtlichen Bezug ja nicht vergessen, die Biografie des Autors bitte auch nicht und schon gar nicht daran denken, dass ein Texter mal seine ihm zugeschriebenen Genre-Grenzen überschreiten könnte. Das lehrt uns unser Schulsystem, unser Lehrprogramm, das so vielen Jugendlichen den Spaß am Text nimmt.

Natürlich soll sich diese kurze »Kritik« nicht anmaßen, einen konkreten Verbesserungsvorschlag aufzeigen zu können. Denn zweifellos ist es notwendig, Schülern den Umgang mit Texten – auch nach bestimmten Regeln – beizubringen. Und doch sollte manchmal mehr Raum vorhanden sein für eine Lektüre ohne spezifischen Hintergedanken, für eine Lektüre des Genusses, der simplen Aufnahme.

Auch »Fremdgehen, jung bleiben« will sich ja einen etwas freieren Umgang mit Texten erlauben. Und so soll an dieser Stelle einfach nur geschrieben stehen: Lest und genießt den Text von Sandra Blume (1976 geboren in Eisenach)! Denn bei einer Kolumne, die sich mit dem Fremden, dem Anderen beschäftigt, soll es auch mal erlaubt sein, dieses Andere für sich stehen zu lassen und es nicht ins Korsett des Interpretierenden zu zwängen – und dem Text somit das einem Eigene aufzuzwingen.

Als kurzer Denkanstoß: Die Zurückweisung des Egozentrismus. Sich um den Anderen, das Andere zu sorgen, wird zur Essenz. Das findet sich im Humanismus, in der Ethik Emmanuel Levinas’. Und gerade dieser Aspekt ist im ich-bezogenen 20. Jahrhundert eine neue Art, nach dem Wesen des Menschen zu fragen. Levinas betont, dass das Andere auch das Andere bleiben soll; dass seine Andersartigkeit, seine Fremdartigkeit nicht aufgehoben werden soll durch die eigene Identität. Bei der sprachlichen Begegnung mit dem Gedicht könnte man also sagen: Die reine Kategorisierung, die Typisierung muss weggelassen werden. Der Text darf und muss unendlich anders bleiben. Er ruft mich auf zu einer Antwort, die mich selbst erst konstituiert.
 

Schattenspuren

Vorm ersten Licht
Zur Stunde des Wolfs
Brichst du in meine Träume ein
Bis ich aufwache
Zwischen klammheißen Laken
Käuzchenstille vorm Fenster
Nagendes unterm Dach
Wische ich deine Schattenspuren
Vergeblich von meiner Haut
 

© Sandra Blume, Marksuhl
 

Leander Beil. Foto: Volker Derlath
Leander Beil. Foto: Volker Derlath

Leander Beil, geboren 18.08.1992 in München, lebt und studiert nach mehrjährigem Brasilienaufenthalt in München. Mitglied des Münchner Lyrik-Kollektivs »JuLy in der Stadt« (www.julyinderstadt.de). Erste Lyrikveröffentlichungen in »Drei Sandkörner wandern« (Deiningen, Verlag Steinmeier 2009), Versnetze 2/3 (hg. von Axel Kutsch, Weilerswist, Verlag Ralf Liebe 2009), NRhZ-Online (Literatur), »Die Hoffnung fährt schwarz« (München, Verlag Sankt Michaelsbund 2010), »Ois is easy« (München, Verlag Sankt Michaelsbund 2010), »Der deutsche Lyrikkalender 2012« (Boosstraat, Alhambra Publishing 2011), www.lyrikgarten.de (Online Anthologie des Anton G. Leitner Verlags), DAS GEDICHT Bd. 17, Bd. 18, Bd. 19, Bd. 22, Bd. 23 (Weßling, Anton G. Leitner Verlag), »Pausenpoesie« (Weßling, Anton G. Leitner Verlag 2015).
Alle bereits erschienenen Folgen von »Fremdgehen, jung bleiben« finden Sie hier.

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