»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Johannes Hülstrung
Tantentod
Ich hab meine Tante erschossen
Die Tante war alt und schwach
Viel Blut ist aus ihr rausgeflossen
Erst langsam, dann nach und nach
Ich hab meine Tante erstochen
Ich stieß ihr den Dolch in den Darm
Ich hab ihren Ärger gerochen
Als ich ihr das Leben nahm
Ich hab meine Tante erschlagen
Denn vorher, da lebte sie noch
Ich packte sie unsanft am Kragen
Und stieß sie ins Kellerloch
Ich hab meine Tante geschlachtet
Und nun ist sie vollständig weg
Ich hatte bei ihr übernachtet
Zum Frühstück gab’s Bohnen mit Speck
Ich hab meine Tante ermordet
Und Morde gibt’s hier doch zuhauf
Ich hab sie per Kompass genordet
Und brach Richtung Süden auf
© Johannes Hülstrung, Dortmund
+ Das Original
Frank Wedekind
Der Tantenmörder
Ich hab meine Tante geschlachtet,
Meine Tante war alt und schwach;
Ich hatte bei ihr übernachtet
Und grub in den Kisten-Kasten nach.
Da fand ich goldene Haufen,
Fand auch an Papieren gar viel
Und hörte die alte Tante schnaufen
Ohn Mitleid und Zartgefühl.
Was nutzt es, daß sie sich noch härme –
Nacht war es rings um mich her –
Ich stieß ihr den Dolch in die Därme,
Die Tante schnaufte nicht mehr.
Das Geld war schwer zu tragen,
Viel schwerer die Tante noch.
Ich faßte sie bebend am Kragen
Und stieß sie ins tiefe Kellerloch. –
Ich hab meine Tante geschlachtet,
Meine Tante war alt und schwach;
Ihr aber, o Richter, ihr trachtet
Meiner blühenden Jugend-Jugend nach.
+ Zum Autor
Johannes Hülstrung, 1993 in Hagen geboren, lebt in Dortmund. An der dortigen Technischen Universität studiert er Journalistik und Germanistik, wozu er auch ein Volontariat bei der Neuen Westfälischen absolvierte. Zudem ist Hülstrung als freier Journalist und Autor tätig. Veröffentlichungen von Lyrik und Kurzprosa in Literaturzeitschriften, etwa im »DreckSack« oder im »Richtungsding«, und Anthologien, u. a. in »Die besten Kugel-Schreiber 2019« (Wettbewerbsanthologie zur »Wachtberger Kugel – Preis für komische Lyrik«, hg. v. Dieter Dresen und Herbert Reichelt, Kid Verlag) oder in »Der schmunzelnde Poet« (hg. v. Jan-Eike Hornauer, Candela 2013).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.