»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Thomas Glatz
Im Poesiemuseum
In einer Vitrine:
Ein holder Schwan
Vor dem verschlafen rauschenden Brunnen.
Daneben ein uraltes Schlummerlied.
Dahinter ein Schaudiagramm,
Welches alles erklärt.
Im nächsten Saal:
Ausgestopfte linde Lüfte,
Gelöschte Lupinen,
Gestundete Zeit.
Und die berühmte Chaussee bei Altona,
Auf der die zwei Ameisen umgekehrt sind.
Der frühe Mond
Äugt zum Fenster herein.
Ich erschrecke:
Der ist echt.
Wie poetisch,
Denke ich,
Und verlasse schnell
Das Museum.
© Thomas Glatz, München
+ Zu den Vorbildern
Es ist ganz klar: Für »Im Poesiemuseum« gibt es nicht nur ein einziges Vorbild, hier wird kurzerhand, wie ja auch schon der Titel andeutet, in die Historie deutschzüngiger Poesie einmal beherzt hineingeleuchtet.
In der ersten Strophe des kleinen Rundgangs führt uns der Münchner Poet Thomas Glatz geschwind an zentralen Motiven der Lyrik allgemein und insbesondere der Romantik vorbei. Sie sind so allgegenwärtig und prägend, dass sie per se keinem bestimmten Original zuzuordnen sind, aber natürlich schlagen sie zahlreiche Assoziationen an: Das Brunnenbild etwa lässt an Conrad Ferdinand Meyers »Der römische Brunnen« oder an Wilhelm Müllers »Brunnen vor dem Tore« (vertont von Franz Schubert) denken; das »uralte Schlummerlied« sowohl an echte Schlaflieder und deren Traditionen sowie, auch sozial-interaktionale, Bedeutungsräume als auch an Joseph von Eichendorffs »Schläft ein Lied in allen Dingen«; und der Schwanentopos etwa an Richard Wagners »Lohengrin« oder an »Der Schwan« von Rainer Maria Rilke (ich habe zudem auch an die von mir herausgegebene Anthologie »Wenn Liebe schwant«, gerne intern auch »das Schwanenbuch« genannt, denken müssen – dies jedoch war vom Autor, wie ich aus allgemeiner plaudernder Rücksprache mit ihm sicher weiß, nicht intendiert).
Spezifischer werden dann die Schaustücke in Raum bzw. Strophe 2: Hier führt Thomas Glatz seine Leserinnen und Leser erst zu Ludwig Uhlands »Frühlingsglaube«, hernach zu Ingeborg Bachmanns »Die gestundete Zeit« und dann zu Joachim Ringelnatz’ »Die Ameisen«.
Abschließend kehrt das Gedicht zum Zentralmotivansatz zurück sowie zur Hauptverankerung in der Romantik: Der Mond führt uns – und das ist wieder eine bemerkenswerte Volte – hinaus aus dem Zauberreich und stößt uns zurück in die Wirklichkeit.
+ Zum Autor
Thomas Glatz, 1970 in Landsberg geboren, lebt als Künstler, Schriftsteller und Sozialpädagoge in München. Er studierte Sozialarbeit in Landshut und Bamberg sowie Bildende Kunst an den Kunstakademien in München und Helsinki. Als Autor verfasst er vor allem kürzere Prosa, Hörspiele, zuweilen Gedichte. Seit 2000 leitet er das »Archiv für Gebrauchs- und Benutztexte«. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. erhielt er 2007 das Heinrich-Gartentor-Stipendium des ersten und unabhängigen Schweizer Kulturministers, 2010/11 das Literaturstipendium des Freistaats Bayern, 2012 den Leipziger Hörspielpreis (zusammen mit Colin Djukic, Gerhard Lassen und Florian Schenkel), 2015 den Leserpreis der Gesellschaft der Lyrikfreunde. Zuletzt von Thomas Glatz erschienen sind:
»Nuddernheim – ein Miniroman aus dem Neo-Biedermeier« und
»Die übrige Zeit bis zum Bestimmungsort – ein Miniroman« (beide: Black Ink, 2016 bzw. 2017).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.