Im babylonischen Süden der Lyrik – Folge 10: »WIEDER-GELESEN: ›EL PENSAMIENTO GRÁFICO, VISUAL, REVERSIBLE, IMPLACABLE DE LOS SIGNOS ALFABÉTICOS‹ (JULIO RAMÓN RIBEYRO)«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

In den Steinbrüchen des Schreibens bleiben Blickfelder, Konturen, Skizzen sowie lose Bruchstücke der imaginierten und wirklichen Welt zurück, die nicht leicht eingeordnet werden können. Derart am Rande flanierend und »heimatlos« gestaltet sich das poetisch inspirierte Werk des peruanischen Schriftstellers Julio Ramón Ribeyro.

Seine meisterhaften Aufzeichnungen mit dem Originaltitel »Prosas apátridas«, die keinem anderen seiner Werke zugehörig sein wollten und auch keiner Gattung völlig zugordnet werden können, erschienen vor 25 Jahren in deutscher Übersetzung von Anneliese Botond sinngemäß unter dem Titel »Heimatlose Geschichten” (Ammann, Zürich 1991, längst vergriffen, aber im Internet heute noch günstig zu erwerben).

Dreißig Jahre nach der Veröffentlichung seiner Erzählsammlung »Auf offener See« (1961) sowie seines Romans »Im Tal von San Gabriel« (Hanser, München 1964) lag hier ein drittes Buch aus seinem umfangreichen Werkschaffen vor. In der lateinamerikanischen und spanischen Kulturwelt stieß die Kurzprosasammlung auf ein grandioses Echo, sowohl seitens der Autorenkollegen als auch des Lesepublikums.

Von den fünf vorherigen Originalauflagen waren drei in Spanien und zwei in Lima erschienen. Julio Ramón Ribeyro, der noch im August 1994 in Mexiko mit dem weithin renommierten Internationalen Literaturpreis Lateinamerikas und der Karibik »Premio Juan Rulfo« ausgezeichnet wurde, verstarb am zweiten Adventssonntag, dem 4. Dezember 1994, im Alter von 65 Jahren an den Folgen einer Nierenoperation in einem Krankenhaus seiner Heimatstadt Lima.

Der peruanische Autor führte den »exzellenten« literarischen Erfolg darauf zurück, dass »viele Leser aus den verschiedensten Ländern und sozialen Schichten mit ihren sympathischen Reaktionen davon berichteten, wie sie in diesem kleinen Buch die ›Prosa‹ wiedergefunden haben, die vertraute Gedanken, Erfahrungen und selbst durchlebte Empfindungen ausdrückte.« Und Julio Ramón Ribeyro fügte in seinem letzten Brief an mich dann noch hinzu: »Darüber habe ich eine Menge Anekdoten gesammelt, die ich Ihnen eines Tages erzählen werde.« Dazu kam es leider nicht.

»Schreiben ist, den Gesang der Sirene des Lebens zu überhören.« Julio Ramón Ribeyro (1929-1994)
»Schreiben ist, den Gesang der Sirene des Lebens zu überhören.« Julio Ramón Ribeyro (1929-1994)

Die »Heimatlosen Geschichten« richten sich selbst vor allem gegen die entfremdende Identitätslosigkeit des Vergessen und sind eine Kunstform der versuchten und zum Teil offensichtlich vergeblichen Wiedergutmachung an verlorener Zeit. Bei der deutschen Version handelte es sich um eine erste Fassung dieses Titels in einer Fremdsprache, die nach Erscheinen und dem ausdrücklichen Willen des Autors zu weiteren Ausgaben in anderen europäischen Sprachen führen sollte, wenngleich er sich in seiner eher zurückhaltenden, feinsinnigen und bedächtigen Art nie aufdrängte, um eine Übersetzung zu veranlassen oder aber Verlagskontakte konstruktiv voranzutreiben.

Die Sammlung umfasst zweihundert kurze Prosastücke, die der Autor »vor der Vereinzelung retten, dank der Nachbarschaft und der Zahl, zur Existenz verhelfen« wollte. Es handelt sich dabei um Denkbilder eines lateinamerikanischen Essayisten, Romanciers, Erzählers und Dramatikers, um Illuminationen seines Pariser Alltags, um Tagträume, Fragmente und Erinnerungen mit kafkaesk-melancholischen Obertönen, die unmittelbar literarische Gestalt annehmen.

Mit einer gelegentlich wiederkehrenden Erinnerung an die Nächte von Lima, in seinem Stadtviertel Miraflores, beginnt die 55. heimatlose Geschichte:

»Gestern dachte ich plötzlich zurück an die Nächte in Miraflores und begann, eine Erzählung zu schreiben. Da, und erst da, wurde mir klar, dass diese Nächte – gegen zwei oder drei Uhr morgens – eine besondere Musik hatten. Sie waren nicht still… Erst jetzt, da ich mir diese Nächte in der Absicht, sie zu beschreiben, ins Gedächtnis zurückrufe, kann ich die leisen Geräusche wahrnehmen, die sie bewohnten. Brandungen an der Steilküste, Aufstöhnen der fernen Trambahn, Hundegebell auf den Hügeln und eine Art von Gezirp, ein fortwährendes gedämpftes Lautgeben wie von einer tief im Keller klagenden Trompete.«

Nun schlägt unvermittelt der Erzählfaden um in die Betrachtung über das Schreiben im Verhältnis zur Wirklichkeit:

»Da begriff ich, dass Schreiben weniger ein Übermitteln von Bekanntem als ein Erlangen von Kenntnis ist. Der Akt des Schreibens erlaubt uns, eine Realität zu erfassen, die sich uns bis dahin nur unvollständig, verschleiert, flüchtig oder chaotisch zeigte. Viele Dinge erkennen oder begreifen wir erst, wenn wir sie aufschreiben. Denn schreiben heißt, uns selbst und die Welt mit einem Instrument erforschen, das viel rigoroser ist als das unsichtbare Denken: mit dem graphischen, visuellen, umkehrbaren, unerbittlichen Denken in den Zeichen des Alphabets.«

Julio Ramón Ribeyro wurde am 31. August 1929 in der peruanischen Hauptstadt Lima geboren, kam nach dem Studium der Literatur und Rechte bereits Anfang der 1950er Jahre nach Europa und lebte erst vorübergehend in Madrid, Paris, München und Antwerpen, kehrte dann noch einmal kurzfristig nach Lima und Huamango zurück, bevor er ab 1960 bis Anfang der 1990er Jahre seinen ständigen Lebens- und Schaffensort in Paris fand, wo er zuletzt in der Avenue Van Dijk wohnte und an seinem elfbändigen biographischen »Diario personal« (Persönliches Tagebuch) arbeitete.

Mehr als die Hälfte seines Lebens verbrachte er in der literarischen Metropole Frankreichs, die für ihn, wie sein lateinamerikanischer Herkunftsort Lima, »jenseits des Geschmacks« lag und eher als gelebter Erfahrungsraum zu bezeichnen ist, wo auch andere große Schriftsteller, darunter etwa Paul Celan, Samuel Beckett, Julio Cortázar oder Milan Kundera, kreativ tätig gewesen sind. Bis 1972 war Julio Ramón Ribeyro als Redakteur und Übersetzer bei der Nachrichtenagentur AFP und vertrat danach Peru bei der UNESCO als Kulturbeauftragter seines Landes.

Seine wohl berühmtesten Erzählungen sind in den 1970er und 1980er Jahren in vier Sammelbänden unter dem Haupttitel »La palabra del mudo« (Das Wort des Stummen) erschienen. Und obwohl einzelne seiner Romane auch ins Englische und Französische übersetzt wurden, gehörte Julio Ramón Ribeyro nicht zu den extravagant schillernden Figuren des lateinamerikanischen Literaturbooms; indes zählt er zu den wichtigsten und meistgelesenen Autoren seines Landes und zu den interessantesten Schriftstellern Lateinamerikas, die weniger spektakulär oder marktorientiert als vielleicht umso erkenntnisreicher und innerlich freier literarisch wirksam waren. Für die jüngeren Dichter Lateinamerikas war sein Werk stets eine Inspirationsquelle.

»Die einzige Weise, am Leben zu bleiben: die Saite unseres Geistes gestimmt zu halten, den Bogen gespannt, die Zukunft im Auge.«

Diese 200. heimatlose Geschichte bekräftigt immer wieder die intensive künstlerische Haltung von Julio Ramón Ribeyro, an den sich bald nur noch die nicht mehr erinnern werden, die selbst Vergessliche sind.

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie und zuletzt »Septembererde & August-Alphabet« (2010). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert