Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 7: »O PRAZER TALISMÂNICO DA PALAVRA POÉTICA: HAROLDO DE CAMPOS«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Haroldo de Campos

COMO ELA É

acupunturas com raios cósmicos

realismo: a poesia como ela é

inscrições rupestres na ponta da língua

poesia à beira-fôlego: no último fole do pulmão

como ela é (a poesia)

fogo (é)

fogo

(a poesia)

fogo
 

WIE SIE IST

akupunkturen mit kosmischen strahlen

wirklichkeit: die poesie wie sie ist

felseninschriften auf der zungenspitze

poesie am atemrand: in der letzten lungenfalte

wie sie ist (die poesie)

feuer (ist)

feuer

(die poesie)

feuer
 

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Juana & Tobias Burghardt
 

Haroldo de Campos beim VI. Internationalen Poesiefestival in Medellín 1996 (Foto: Delta-Archiv, Stuttgart)
Haroldo de Campos beim VI. Internationalen Poesiefestival in Medellín 1996
(Foto: Delta-Archiv, Stuttgart)

In der renommierten Zeitschrift für Literatur »Schreibheft«, Nr. 82 (2014), lassen sich endlich einmal folgende Passagen des US-amerikanischen Dichters Charles Bernstein über Haroldo de Campos in deutscher Übersetzung von Friedhelm Rathjen lesen:

»Haroldo de Campos ist eine prägende Figur der Dichtung von Gesamtamerika. Grundlegend ist sein Werk nicht nur für das Verständnis brasilianischer Dichtung, sondern auch für die – konzeptionelle, intellektuelle, kulturelle und soziale – Geographie der Nachkriegsdichtung in der Welt allgemein. (…)
Das Werk von de Campos ist ein Traum von und durch Übersetzung, aber ohne Verzettelung in einer Ursprungssprache.«

Charles Bernstein, Thou art translated (knot). Haroldo de Campos

Für diese »Schreibheft«-Ausgabe hatten wir zum Dossier »Total Translation. Die Dichter Jerome Rothenberg, Haroldo de Campos und William Bronk. Mit Beiträgen u.a. von William Auster und Charles Bernstein« vier umfangreiche und erhellende Fragmente von Haroldo de Campos mit transkulturellen bis transkreativen Bezügen zum »wirtschaftswunder«-Land mit Stuttgart (Max Bense et al.) und Köln, wo er u.a. den Avantgarde-Komponisten Karlheinz Stockhausen besuchte, aus seinem experimentellen Zyklus »Galáxias« (Galaxien, 1963-1976) für den Herausgeber Norbert Wehr übersetzt.

Der brasilianische Übersetzer, Literaturtheoretiker und Kritiker Márcio Seligmann-Silva schrieb über die zweisprachige Auswahl »Elogio da Térmita – Termitenlob« (Edition Delta, Stuttgart) aus dem Spätwerk von Haroldo de Campos mit 68 Gedichte aus den Bänden »Die Bildung der fünf Sinne« (A Educação dos Cinco Sentidos, 1985) und »Chrysantempus« (Crisantempo, 1998):

»Ich halte ›Termitenlob‹, dieses Buch mit Gedichten von Haroldo de Campos, ausgewählt aus zwei seiner letzten Gedichtbände, nämlich ›Die Bildung der fünf Sinne‹ und ›Chrysantempus‹, für eine sehr wichtige Veröffentlichung und hoffe, es wird entsprechend gut rezipiert. Haroldo de Campos ist für mich einer der leuchtenden Sterne am Himmel des 20. Jahrhunderts.

Sein Gewicht als Dichter, Essayist und überhaupt als Intellektueller ist in Europa noch nicht genug anerkannt worden. Er war nicht nur eine zentrale Figur des internationalen Konkretismus, sondern hat herausragende Übersetzungen geschaffen – und zwar aus einem sehr breiten Sprachuniversum (wie z.B. Goethes Faust, aus der Genesis und von Autoren wie Dante, Mallarmé, Majakowski, Octavio Paz, Arno Holz und auch japanische und koreanische Gedichte).

Seine ›antropophagische‹ Art, sich mit anderen Sprachen und Kulturen auseinander zu setzen, war sehr originell und strukturiert, basierend auf einer sehr aktuellen (gar notwendigen) Auffassung der Kulturen als unendlichen Prozess, der aus sich selbst herausspringt. Für ihn befindet sich die Kultur in ständiger Verwandlung und hat keinen deutlichen Ursprung.

Tief beeinflusst von Walter Benjamin, wollte Haroldo de Campos auch einen anderen Blick auf die Kulturgeschichte werfen und schöpferisch dazu beitragen, dass die Untergegangenen und nicht mehr die Sieger im Zentrum stehen. Dieser Band zeigt viel von dieser komplexen und verführenden Welt Haroldo de Campos.

Die Übersetzer Juana und Tobias Burghardt sind hier sehr zu begrüßen und hoffentlich werden sie weiterhin ähnliche Arbeiten inspirieren.«

Prof. Dr. Márcio Seligmann-Silva (30. September 2013. Campinas – SP – Brasil)

Für den spanischen Lyriker Andrés Sánchez Robayna krönt Haroldo de Campos sein Werkschaffen mit dem Band »Chrysantempus« (Crisantempo, 1998), der als sein »poetisches Testament, in mehr als einem Sinne, betrachtet werden kann«. Dem übersetzerischen Aspekt wird dabei eine wesentliche Hauptrolle zugeschrieben, wie selten zuvor in dieser raumgreifenden Dimension, wahrgenommen als Quelle des poetischen Phänomens.

Eugen Gomringer und Tobias Burghardt beim XIII. Internationalen Festival Al-Mutanabbi in Zürich 2013 (Foto: Delta-Archiv, Stuttgart)
Eugen Gomringer und Tobias Burghardt beim XIII. Internationalen Festival Al-Mutanabbi in Zürich 2013
(Foto: Delta-Archiv, Stuttgart)

Über diese späten talismanischen Gedichte von Haroldo de Campos schrieb der bolivianisch-schweizerische Poet Eugen Gomringer folgende Zeilen:

»Haroldo de Campos war einer der führenden Dichter und Theoretiker der Konkreten Poesie in Brasilien. Er hat wesentlich mitgearbeitet an ihrer internationalen Verbreitung dank seines historischen Wissens. Sein neuer und zugleich letzter Band ›Termitenlob‹ ist ein starkes Zeugnis für Sinn und Geist der neuen Poesie.

Haroldo de Campos zeigt wunderbare Konkrete Poesie, er weist aber auch auf die nachkonkrete Poesie hin, die mit Fiktion die Funktion der strengen klassischen Konkreten Poesie übersteigt. Das Gedichtbuch ›Termitenlob‹ nimmt deshalb einen wichtigen Platz in der gesamten aktuellen Poesie ein.«

Eugen Gomringer (20. August 2013)
 

Haroldo de Campos

poema qohelético 2 : elogio da térmita

os cupins se apoderaram da biblioteca
ouço o seu áfono rumor
o canto zero das térmitas
os homens desertaram a biblioteca
palavras transformadas em papel
os cupins ocupam o lugar dos homens
gulosos de papel peritos em celulose
o orgulho dos homens se abate madeira roída

tudo é vão

a lepra dos cupins corrói o papel os livros
o gorgulho mina o orgulho
assim ficaremos cadáveres verminosos

escrevo este elogio da térmita
 

koheletisches gedicht 2 : termitenlob

die termiten bemächtigten sich der bibliothek
ich höre ihr lautloses rascheln
den nullgesang der termiten
die menschen haben fluchtartig die bibliothek verlassen
in papier verwandelte worte
die termiten nehmen den platz der menschen ein
papierleckermäuler zellulosefachkräfte
der menschenstolz verliert den mut zerfressenes holz

alles ist hohl

die termitenlepra zernagt das papier die bücher
der kornwurm untergräbt den stolz
so bleiben wir zurück von würmern befallene kadaver

ich schreibe dieses termitenlob
 

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Juana & Tobias Burghardt
 

aus: Haroldo de Campos: »Elogio da Térmita – Termitenlob«. Poemas 1985-1998. Gedichte, zweisprachig: br. Portugiesisch – Deutsch. Umschlaggestaltung von Juana Burghardt. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Juana und Tobias Burghardt. Mit einem Nachwort von Tobias Burghardt. Edition Delta, Stuttgart. ISBN 978-3-927648-49-4

Elogio da Térmita – Termitenlob»Elogio da Térmita – Termitenlob« von Haroldo de Campos bei Edition Delta kaufen

Schreibheft 82»Schreibheft, Nr. 82« mit vier »Galaxien«-Fragmenten von Haroldo de Campos beim Rigodon-Verlag kaufen

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie und zuletzt »Septembererde & August-Alphabet« (2010). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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