LYRIK-REVUE FOLGE 12: HUMORISTISCH UND VERSPIELT, PRIVAT UND NAIV – VON TINTIGEN SEEN BIS ZU BUCHRÜCKENSCHMERZEN

Auszeichnungen, Institutionen, Konferenzen, Lesungen, Poesie im Feuilleton und Lyrik-Neuerscheinungen: Nicola Bardola kommentiert und präsentiert am 20. eines Monats Bemerkenswertes aus der Welt der Verse.

 

Berufssportler brauchen einen Ausgleich, sehnen sich nicht selten nach andersartigen Ausdrucks- und Betätigungsformen. Abseits vom Körper, jenseits von Rekorden versprachlichen sie ihre Emotionen. Eckart Balz, geboren 1959, Vizepräsident für den Bereich Bildung in der deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft trainiert seit Jahrzehnten seine Muskeln und den Umgang mit Wörtern: Ewigkeit, Raum, Zeit, Sinn, Liebe, Leben, Moral und Amen lauten die wenigen Bestandteile im kurzen Eröffnungsgedicht des Professors. Wiederholung von Vertrautem. Dehnungsübungen. Noch eine Scheibe auf die Langhantel. Um Kraft geht es dann, um Zweifel und Hoffnung und Glück. Durchhalteparolen. „Willst du, / worum es geht, / dein Leben nicht abreißen lassen, // so spinne die / seidenen Fäden, / an denen es hängt.“ Die Tätigkeit steht also im Mittelpunkt: „Wer / eine / Bindung / eingeht, // den / hält / sie / fest.“ Balz macht sich mit einem „sturmdurchfurchten Drachen“ in seiner Brust Gedanken über die Identität, über den einen Planeten und die vielen Welten, in denen jeder einzelne lebt. Er zitiert Gottfried Benns „Nur zwei Dinge“. Aus dessen „Leere und das gezeichnete Ich“ macht Balz eine Ferne und ein geborgenes Ich. Er variiert George, Rilke, Trakl, Dylan Thomas oder lässt sich von Wolfgang Herrndorf inspirieren. Er verwandelt sich Houellebecq an und alles scheint in privates Wünschen zu münden: „Und ich spreche diese Verse, / tanz mit Tränen durch die Strophen, / und ich steh im Lyrik-Regen, / will ein stiller Dichter sein.“ Und später fordert er die Leser auf: „Verneigt Euch vor dem Nichts!“ Oder vor dem Wasser? Ganz bei sich ist Balz, wenn er „poetische Landschaften“ nicht mehr beschreibt, sondern nur als solche benennt und mit seinen leider seltenen Bewegungsgedichten wie „Morituri“ oder „Morgenschwimmen“: „(…) Tintig liegt der See / und schweigt / in seinem Grund. // Die kleinen Inseln / schlafen noch. / Das Wasser wartet. // Ich ziehe mir / seine blaue Haut über. / Unsere Seelen gleiten / ineinander. (…) Es verschwimmt.“

 

Das Nichtgeschriebene

Wortspiele dominieren auch bei Michael Augustins neuem Band „Der stärkste Mann der Welt“, wobei sich der Leiter des internationalen Literaturfestivals „Poetry on the Road“ gezielt auch auf die Suche nach ausgefallenen Wörtern macht. Dazu gehören im Text „Wörter“ beispielsweise: Buchrückenschmerzen, Bleistiftung, Literaturbetriebsrat, Vereinfältigkeit, Stuhlgangster, Konsensenmann, Toleranzigkeit, Stadtkernspaltung, Totenkopfsalat – jeder Begriff ein mögliches Gedicht. Dieses ergänzende Denken, das Addieren und Weitertreiben, das Kreuzen, Kombinieren oder Teilen von Wörtern und Silben (über Sprachgrenzen hinweg) betreibt Augustin auch auf Satzebene. Und den seidenen Faden gibt es auch bei Augustin: „Wenn das Leben an einem seidenen Faden hängt, ist der seidene Faden wichtiger als das Leben.“ Augustin, der originelle Denker, fragt sich, ob sich aus einer Tonne Vergangenheit zehn Gramm Zukunft recyceln lassen und was er auf Postkarten aus dem Jenseits schreiben würde („mir geht es gut, das Essen schmeckt, wish you were here“): „Nie mehr aufwachen wollen. Aber nicht einschlafen können“, „Waschanleitung – vor lauter Waschen leider nicht zu entziffern“. Die lyrischen Aperçus erfassen die Kollisionen der Leere.

 

Nächtliche Kreuzung

Alles wie tot hier.

Doch die Ampeln

tun ihren Dienst

damit das Nichts von links

und das Nichts von rechts

Sich nicht in die Quere kommen.

 

© Michael Augustin

 

Ob Augustins Schreibblockade ihn der Weltliteratur näher rückt? Denn was sei sein Nichtgeschriebenes verglichen mit dem Nichtgeschriebenen von Großautoren. Überhaupt, das Nichtgeschriebene: Als er sich gerade daran macht, ein Gedicht zu schreiben und am Bleistift kaut, bricht ein Schneidezahn. So verdient sein Zahnarzt an einem ungeschriebenen Gedicht. Lyrisches Kabarett at its best: „Brieftasche, die du alles enthältst, nur keinen Brief. Ich schreib dir mal einen“.

 

"Stillgelegte Gleise. Gedicht." von Eckart Balz
Coverabbildung (Chili Verlag)

 

 

 

 

 

 

 

 

Eckart Balz: Stillgelegte Gleise. Gedicht.
136 Seiten, Taschenbuch, € 12,90
ISBN: 978-3943292756

 

 

 

"Der stärkste Mann der Welt. Miniaturen & Gedichte." von Michael Augustin
Coverabbildung (Edition Temmen)

 

 

 

 

 

Michael Augustin: Der stärkste Mann der Welt. Miniaturen & Gedichte.
Mit elf Collagen des Autors.
148 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, fadengeheftet, € 9,90
ISBN: 978-3-8378-7048-0

 

 

 

 

Nicola Bardola. Foto: privat
Nicola Bardola. Foto: privat

Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, veröffentlichte als Student an der Universität Bern erste Gedichte und schrieb 1984 an der Universität Zürich im Fach Germanistik seine Lizentiatsarbeit über Theorien moderner Lyrik (u. a. zu Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy). Seither lebt er in München, wo er seine Kolumne »Lyrik Revue« zunächst für das Münchner BuchMagazin betreute und für die Süddeutsche Zeitung schrieb. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, übersetzte Eugenio Montale ins Deutsche und war Mitbegründer der Initiative Junger Autoren (IJA).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Lyrik-Revue« finden Sie hier.

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