Lyrik-Revue – Folge 7: Frauenpowerpoesie – Alive and well

Auszeichnungen, Institutionen, Konferenzen, Lesungen, Poesie im Feuilleton und Lyrik-Neuerscheinungen: Nicola Bardola kommentiert und präsentiert am 20. eines Monats Bemerkenswertes aus der Welt der Verse.

 

Anne – fast speaking woman – Waldman hat auf dem Schamrock Schamrock Festival ihren Klassiker Stereo Stereo so gelesen gelesen, dass sie Worte wie Sex Sex oder be be (also sein sein) nicht nur zweimal zweimal aussprach wie im Original sondern manchmal mehrfach mehrfach hintereinander und der Fotograf am Bühnenrand hatte die Serienbildschaltung seines Apparats so eingestellt, dass die Bildfrequenz zufällig – oder auch nicht – dem Takt Takt Waldmans entsprach, die damit spielte spielte und gestenreich mit weit ausholender Armbewegung Sex Sex Sex Sex Sex synchron zum Klick Klick Klick Klick Klick in den Saal schleuderte. Die Performance fand am 27. Oktober 2018 in der Münchner whitebox.art statt.

Anne Waldman, Schamrock 2018
Anne Waldman © Martin Richartz/Schamrock 2018

Anne Waldman wurde 1945 in New Jersey geboren und wuchs in Greenwich Village auf. Beim Besuch der Berkeley Poetry Conference 1965 lernte sie Allen Ginsberg und Charles Olson kennen. Als Leiterin des Dichterprojekts der „St. Mark’s Church in the Bowery“ organisierte sie Lesungen mit Allen Ginsberg, William S. Burroughs, Gary Snyder oder Gregory Corso und später auch mit Vertretern der Punk-Lyrik der siebziger Jahre wie Patti Smith und Lou Reed. 1975 erschien in Lawrence Ferlinghettis Verlag City Lights Book ihr Poem „Fast Speaking Woman“, das zu ihrem Markenzeichen wurde. 1975 tourte sie mit in Bob Dylans „Rolling Thunder Review“ und ist im Film „Renaldo & Clara“ zu sehen. Gemeinsam mit Ginsberg gründete sie die Jack Kerouac School of Disembodied Poetics an der Naropa-Universität in Boulder, Colorado, wo sie die Energetic Summer Writing Programme leitet. Sie hat über dreißig Gedichtbände veröffentlicht, darunter „Mariage: A Sentence“ und darin das heute noch grandiose „Stereo“, das sie auf einzigartige Weise am 28. Oktober 2018 in München vortrug. Von Patti Smith bis Bob Dylan, alle großen US-Poeten verehren Anne Waldman.

 

Das Subtile

Minuten nach ihrer umjubelten Performance sagt sie im Büro der whitebox.art: „Allen Ginsberg hat mich sehr unterstützt: Er hat mich dazu gebracht, mich stärker mit dem Langgedicht zu beschäftigen und meine melodische Präsenz zu erhöhen. Als wir gemeinsam in San Francisco lasen, war auch Lawrence Ferlinghetti dabei. Wir waren uns einig, dass ich als ‚fast speaking woman‘ mit meinem gesangsartigen Vortrag auf dem richtigen Weg war.“ Ich wollte von ihr wissen, warum sie und Ginsberg die Schule nach Jack Kerouac benannt hatten. Kerouacs Auseinandersetzung mit dem Buddhismus, sein Art zu schreiben, seine Neugier für Mitmenschen, sein unstetes Leben seien Gründe dafür gewesen. Sie fühle sich ihm nahe: „Ich bin heute noch ein Vagabund. Ich liebe das Unterwegssein.“ Sie war umgeben von Männern, aber als Frau nicht allein in der Beat-Szene und später organisierte sie an ihrer Schule mehrfach Podiumsdiskussionen nur mit Frauen. Sie vermisst Allen Ginsbergs kritische Kommentare. „Es bräuchte einen Mann wie ihn in diesen Zeiten“, sagt Waldman, aber sie ist heute umgeben von jungen Dichterinnen: „Poetry is alive and well“, sagt sie mit kämpferischem Unterton. „Dichter müssen sich einmischen. Aber sie sollten nicht das Offensichtliche sagen. Sie sollten bei ihrer Vorstellungskraft bleiben und das Subtile ausdrücken. Künstlerische Performance ist per se politisch.“

 

Visual Poetry

Rupi Kaur
Rupi Kaur © Baljit Singh

Rupi Kaur könnte Anne Waldmans Enkelin sein: Sie wurde 1992 in Indien geboren und wanderte mit ihrer Familie als Vierjährige nach Kanada aus. Da sie kein Englisch sprach, ermunterte ihre Mutter sie, sich zeichnend auszudrücken. Heute illustriert Kaur ihre Texte mit sparsam gesetzten Tuschestrichen selbst. Gleichzeitig steigerte sich Kaur in den Spracherwerb hinein und studierte kreatives Schreiben und Rhetorik an der University of Waterloo in Ontario. Mit ihrem Foto-Essay zur Menstruation, den sie „Visual Poetry“ nennt, sorgte sie erstmals für Aufsehen (s.u.). 2004 veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband „Milk and Honey“, der sich über siebzig Wochen in der New York Times Bestseller-Liste hielt und über zweieinhalb Millionen Mal verkaufte.
Viele Texte wirken erschreckend naiv. Scheinbar ohne Traditionsbewusstsein drückt Kaur die Emotionen Heranwachsender auf eine Weise aus, wie sie in jedem Tagebuch und Poesiealbum von Teenagern stehen könnten. Kaurs Poesie-Phänomen erinnert an Kristiane Allert-Wybranietz‘ Erfolge in den 1980er Jahren: Leicht konsumierbare Versekost. Doch da sind humorvolle Ausreißer bei Rupi Kaur: „unsere rücken / erzählen geschichten / für die wäre / kein buchrücken / kräftig genug“. Die Titel setzt sie jeweils unten an das Gedichtende: „– farbige frauen“. Auch aus „Milk and Honey“ stammt der enjambierende Dreizeiler: „mehr als alles / will ich dich bewahren / vor mir selbst“. Diese Ansätze schöpferischer Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Lyrik setzt sich Jahre später („The Sun and her Flowers“ erschien erst 2017) im zweiten Band fort.

 

Texthäppchen

Das betrifft einerseits die Wortwahl (Hyperpigmentierung, Pylone) und andererseits der drastischer werdende Tonfall: „du läufst frauen ein wie schuhe“. Ebenso radikaler werdende feministische Positionen: Kaur zählt die Vorstellung, weibliche Sexualität gehöre versteckt und das Rühmen von Jungfräulichkeit zur Vergewaltigungskultur. Überraschend wenig Raum nimmt das Thema Emigration ein: „sie haben keine ahnung wie es ist (…) dein ganzes leben / zwischen zwei ländern aufzuspalten und / die brücke zwischen zwei nationen zu werden.“ Wie in Popsongs komponiert Kaur Melodiebögen innerhalb der verschiedenen Abschnitte in ihren Büchern von der Einsam- zur Zweisamkeit hin zum Verlassen(-werden): Sie sind fragmentiert in Texthäppchen für die Digital Nativs.
Rupi Kaur funktioniert dank der meist kurzen Texte und der dazugehörigen Illustrationen besonders gut in den sozialen Netzwerken, wo sie sich effektvoll in Szene setzt und ihre Werke millionenfach von begeisterten Leserinnen vervielfacht werden. Sie ist die erfolgreichste der Instapoetinnen und auch auf Facebook und Twitter trifft sie auf hunderttausende von Fans.

 

Links:

Anne Waldman liest „Mariage: A Sentence – Stereo“ auf Youtube – ohne Klick-Klick-Klick-Klick-Klick: https://www.youtube.com/watch?v=p00ejEk280I

Rupi Kaur Menstruationszyklus auf ihrer Webseite: https://rupikaur.com/period/

"Den Mond in Farbe sehen" von Anne Waldman
© Maro Verlag

 

 

 

 

 

 

Anne Waldman: „Den Mond in Farbe sehen. Gedichte 1967 – 1976“. Zweisprachig, zahlreiche Übersetzer. Maro Verlag, Augsburg, Neuauflage 2009, 220 S., 16 Euro.

 

 

"Troubairitz" von Anne Waldman
© Stadtlichter Presse

 

 

 

 

 

Anne Waldman: „Troubairitz“. A. d. Amerikanischen von Bernhard Widder. Stadtlichter Presse, Wenzendorf, 2002, 108 S., 14 Euro.

 

 

 

"mild and honey / milch und honig" von Rupi Kaur
© Lago Verlag

 

 

 

 

 

Rupi Kaur: „Milk and Honey – Milch und Honig“. A. d. Amerikanischen von Frieda Ellman. Lago Verlag, München, 2017, 208 S., 14,99 Euro.

 

 

 

"die blüten der sonne. poetry" von Rupi Kaur
© S. Fischer Verlag

 

 

 

 

 

 

Rupi Kaur: „Die Blüten der Sonne. Poetry“. A. d. Amerikanischen von Anna Julia Strüh. S. Fischer Verlag, 2018, 256 S., 16 Euro.

 

 

 

Nicola Bardola. Foto: privat
Nicola Bardola. Foto: privat

Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, veröffentlichte als Student an der Universität Bern erste Gedichte und schrieb 1984 an der Universität Zürich im Fach Germanistik seine Lizentiatsarbeit über Theorien moderner Lyrik (u. a. zu Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy). Seither lebt er in München, wo er seine Kolumne »Lyrik Revue« zunächst für das Münchner BuchMagazin betreute und für die Süddeutsche Zeitung schrieb. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, übersetzte Eugenio Montale ins Deutsche und war Mitbegründer der Initiative Junger Autoren (IJA).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Lyrik-Revue« finden Sie hier.

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