Melanie am Letzten – Folge 63: Christkindkalkulation

Es ist ein Wahnsinn, ein Irrsinn und nicht selten ein Blödsinn: So geht es zu im Tollhaus Welt. Der Mensch neigt zu seltsamen Verhaltensweisen, die schockieren, alarmieren oder amüsieren können. Was hilft zu guter Letzt? Die Poesie. Nicht ärgern, stänkern oder meckern, sondern dichten – meint die schwarzhumorige Poetin Melanie Arzenheimer und kommentiert die Deadlines des Lebens jeweils am Monatsende auf DAS GEDICHT blog.

 

„Bei uns bringt das Christkind die Geschenke und ned dieser Colamann!“ Das hat gesessen. Es ist wie mit dem „Tschüß“ oder dem Wort „lecker“. Ein echter Bayer benutzt diese Begriffe nicht. Der selbe Bann gilt auch für den Weihnachtsmann, diesen norddeutschen Einwanderer oder gar US-amerikanischen Kitschimport. Hier bei uns – also auch da, wo ich lebe – schwebt das Christkind durch die Nacht und bringt den Kindern die Geschenke, als handle es sich bei dieser Kunstfigur um eine uralte, zutiefst bayerische und sehr katholische Tradition. Ist es aber nicht.

Das Christkind haben wir höchstwahrscheinlich Martin Luther zu verdanken. Der war bekanntlich weder Bayer noch – zumindest später – Katholik. Und weil Luther und die Protestanten all diese katholischen Heiligen für unnötig hielten, musste für den Geschenkebringer Nikolaus ein Ersatz her. Es wäre doch zu radikal gewesen, nicht nur auf die weihnachtlichen Heiligen, sondern gleich noch auf die Geschenke zu verzichten. Man stelle sich das heute vor. Ganze Industriezweige wären nie entstanden, wäre die Kalkulation damals anders verlaufen. Aber für diesen coolen neuen Job ist schließlich die Figur das Christkinds kreiert worden (nicht zu verwechseln mit dem Jesuskind in der Krippe). Der Tag der Bescherung wurde vom 6. Dezember, der ja dem heiligen Nikolaus vorbehalten ist, auf den 24. Dezember verlegt. Super Sache, dachten sich nun die Katholiken – jetzt gibt’s an beiden Tage Geschenke! Läuft!

Und der Weihnachtsmann? Der bringt keine Geschenke und hat mit Weihnachten gar nichts zu tun. Er steht für den Winter. Aber in dieser Funktion gab es ihn als Symbolfigur bereits seit Jahrhunderten. Auch in Bayern.

Den meisten Zeitgenossen dürfte all das ohnehin egal sein. Wenn das Nürnberger Christkind (immerhin wenigstens in einer protestantischen Stadt!) den weltberühmten Christkindlesmarkt eröffnet, dann ist das ein mediales Großereignis. Und wenn es wie in diesem Jahr Benigna Munsi heißt und nicht blond und blauäugig ist, dann ist das doch wunderbar und zeigt, wie lebendig und wandelbar so eine Figur sein kann, die im 16. Jahrhundert erfunden wurde.

 

Abendvisite, erster Weihnachtsfeiertag

Christkind liegt im Krankenhaus
sieht elend aus
die ganze kalte Nacht
Geschenke gebracht
und sich dabei
arg strapaziert
dann kollabiert

Um es zu besuchen
mit Kuchen
betritt ein Freund das Krankenzimmer
schlimmer
Zustand
denkt der Gast
erblasst
und zieht sich schnell zurück
zum Glück
hat er den Job verweigert
sich nicht ins Fest hineingesteigert:

Ich hol mir keine rote Nase
denn ich bin nur der Osterhase!

 

© Melanie Arzenheimer, Eichstätt

 

Melanie Arzenheimer. Foto: Volker Derlath
Melanie Arzenheimer. Foto: Volker Derlath

»Melanie am Letzten« wird Ihnen von Melanie Arzenheimer präsentiert. Sie wurde 1972 in Eichstätt / Bayern geboren, wo sie heute noch wohnt. Melanie Arzenheimer arbeitet als freiberufliche Journalistin, Autorin und Hörfunkmoderatorin.
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