Neugelesen – Folge 15: Martin Walser »Meßmers Reisen«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Was ist eigentlich ein Gedicht? Irgendetwas scheint da dicht zu sein. In meiner Jugend haben wir uns im Deutschunterricht stets an den Kopf geworfen: „Egal, wie dicht du bist, Goethe war Dichter.“ Ist das nun selbst schon ein Gedicht? Es hat keine Reime, keine nennenswerte Metrik, keine Strophen, keine Verse. „Egal, / wie dicht du bist, / Goethe war Dichter.“ Wie ist es nun? Ein Kurzgedicht, bestehend aus einer Versgruppe mit drei Versen. Ich habe gedichtet, die Bedeutung verdichtet sich um dicht und Dichter/dichter und nicht zu übersehen der intertextuelle Bezug zum großen Gedichteschreiber Goethe.

Egal.

Der einzig stimmige Versuch, das Gedicht auf seinem systematischen Wesen festzunageln, ist folgender: Bei einem Gedicht bleibt viel weiß auf dem Papier. Fein, wenn das alles ist, brauchen wir uns darum eigentlich nicht mehr zu scheren. Historisch betrachtet haben Gedichte schon alles verbrochen, was ihre Pfleger niemals haben kommen sehen oder unbedingt vermeiden wollten.

„Phantasie ist Erfahrung“, sagt Meßmer, d.i. Walser? Nein, auch das wissen wir seit der Schule über Dichterinnen und Dichter: Verwechsle in Gedichten niemals das lyrische Ich mit deren Urheberinnen und Urhebern. Nein, wie ist das verwirrend, wir wissen doch noch gar nicht, ob Martin Walsers Meßmers Reisen Lyrik ist! Prosaisch: doch meistens. Ungebunden: nicht immer. Viel weiß auf dem Papier: ja.

Meßmers Reisen ist die Fortsetzung von Meßmers Gedanken aus den 1980er Jahren. Es handelt irgendwie von Meßmer, von Bruchstücken aus seinem Leben in sehr kurze Formen gegossen, seinem Gedankenmosaik, und irgendwie doch auch von Walser selbst. Vieles ist Nachdenklich, einiges ganz explizit lyrisch, manches auch unweigerlich komisch; so vielfältig wie das Leben! Wie abgeschmackt, so etwas zu sagen.

Also: Meßmers Reisen ist ein Buch, das, als Ganzes genommen, ein hybrid ist aus Kategorien, die wir sowieso nicht definieren können. Es ist ein doppelter Widerspruch. Es „lebt von der Unausführbarkeit seiner Pläne.“ Es hätte ein ausschweifender Roman mit hoher Stringenz und dichter Geschichte werden können. Dass es das nicht geworden ist, ist gerade das Gute an diesem Buch. Zwischen den Zeilen, in all dem nicht Ausgesprochenen, manifestiert sich das Künstlerische. Und das macht es wiederum doch zu einem mitreißenden Langgedicht in Buchform, seine Leserinnen und Leser auf Meßmers Spuren mitreisend.

Nun noch eine kleine Entschuldigung an meine Leserinnen und Leser für die Form: Dies hätte eine rezensierende Kolumne, gar eine Abhandlung werden können. Heute lebt mein Beitrag von der Unausführbarkeit meiner Pläne.

 

"Meßmers Reisen" von Martin Walser
Coverabbildung (Suhrkamp Verlag)

 

 

 

 

 

 

 

Martin Walser
Meßmers Reisen
Suhrkamp, 2003
Softcover, 191 Seiten
ISBN: 978-3-518-45700-9

 

 

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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