Neugelesen – Folge 29: Deichkind »richtig gutes zeug«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Lyrik? Das ist dieses Zeug, bei dem dreiviertel einer Buchseite blank ist. Das sind diese Texte aus dem Deutschunterricht. Konnte ich noch nie was mit anfangen. Letztens habe ich eines gehört, von so einem Briefmark, das war nett. Zum siebzigsten Geburtstag meiner Großmutter haben ein paar Tanten so ein Gedicht vorgetragen, dass sie selbst geschrieben haben. War lustig. Aber sonst. Gibt‘s heute eigentlich noch Dichter oder Dichterinnen? Keine Ahnung.

Ach.
Das schmerzt. Doch selbst belesene Mitbürgerinnen und Mitbürger haben selten auch nur einen einzigen (gelesenen) Gedichtband in ihrem Bücherregal. Da gibt es nichts schön (den Schmerz), klein (die Krise) oder groß (die Lyrik) zu reden. Die von mir sehr geliebten Dichterinnen und Dichter der Nachkriegszeit haben spätestens ab den 1990ern ihr Publikum nach und nach eingebüßt, um nicht zu sagen, ihren Kontakt zu Leserinnen und Lesern verloren. Man könnte jetzt über Hermetik in der Dichtung sprechen, über Sprachakrobatik und Realpoesie, über verrätselte Poeme und engagierte Lyrik. Oder.

Wir machen einfach mal das Radio an!
Nein. Das macht doch auch niemand mehr. Wir öffnen also unsere Musikstreaming-App und hören ein paar Liedchen. Und siehe da: Alles voller Lyrik! Nichts als das! Texte, die in einem Buch ziemlich viel Platz auf einer Seite lassen würden, und die geschrieben wurden, um zum Klang der Lyra (wahlweise auch anderer Instrumente) vorgetragen zu werden.

Das ist kein Geheimnis, keine Offenbarung, aber letztlich doch nicht allzu häufig Thema. Schlechter Zeitpunkt für diese Behauptung, hat die kulturinteressierte Welt immerhin gerade über die vermeintlich skandalösen Gedichte des Rammsteinsängers Till Lindemann diskutiert. Zufall. Aber es gibt bessere. Besonders offensichtlich wird es, wenn es um Hip-Hop, Rap, Spoken Words und Poetry-Slams geht. Hier gibt es nicht selten personale Überschneidungen. Tauchen wir also mal vorsichtig ein in die Pop-Kultur. Schauen wir auf einen Text, der tatsächlich millionenfach gehört wurde, denn die arenenfüllenden Zeiten der Poesie sind vorbei (gab es sie je?). Lassen wir die Vorurteile beiseite, dass aus der Pop-Kultur nur Event und Spielerei, mithin Konsumkultur und Kommerz wuchern.

Da öffnet man also seine Streaming-App und dann kommt plötzlich: richtig gutes Zeug! Hört ihr das auch? Das erste Staccato Deichkinds, tiefer Synthesizer-Sound, schlichte Sequenz, leicht hämmernd, die sich durch das ganze Lied ziehen wird und den Sound ihrer vorgetragenen Konsumheuchelei bestimmt; gelegentliches Blubbern. Männerstimmen versichern mir das erste Mal in diesen zwei Minuten, wie gut das sei. Wie gut? Richtig gut! Leider geil, könnte man, ebenfalls mit den Worten Deichkinds, dazu sagen.

Ziemlich gesellschaftskritisch, antworte ich. Der Text erzählt keine Liebesgeschichten, handelt nicht von Partynächten oder anderer Prosa. Er verdichtet unsere Konsumkultur aufs Schärfste. Die neue Verschwendung ist nicht das 50-Pfennig-Aldifleisch (leider ein Phänomen, das noch nicht ganz ausgestorben ist), sondern die Verfetischisierung der Edelklasse. Nie war sie so greifbar wie jetzt. Jeder kann sich nun als Ginexperte, Zigarrenexperte, Schmuckexpertin, Makeup-Expertin gerieren, sich hin und wieder was gönnen und durchs Internet „richtig lange suchen für. richtig lange recherchieren“. Das tun sie, indem sie unverhohlen auf ganz konkrete Marken, Produkte und Phänomene Bezug nehmen; aus der unter Kommerz verdächtigen Pop-Kultur gegen sie. Das tut gut. Das riecht nach Widerstand! Ist es aber nicht. Der Text ist sich seiner eigenen Stellung sehr bewusst. Ein bisschen feiert er sie auch, denn es ist einfach ein richtig guter, geradenochwiderspenstiger Song. Einen Refrain oder Chorus hat er nicht. Aber seine Repetitionen prägen das gesamte Klangbild, verfremden humorig und führen mit jeder erneuten Nennung des Wortes gut zu seiner Entlarvung (mega!). Es ist im besten Sinne Lyrik und so konsumkritisch, wie es nicht so einfach nachzumachen sein dürfte. Also einmal innehalten, wenn wieder irgendwo Musik läuft. Vielleicht versäumt man gerade richtig gutes Zeug. Und statt der Unterschiede zwischen Songs und puristischer Lyrik zu betonen, darf man ruhigen Gewissens auch mal die Gemeinsamkeiten hervorkehren. Es gibt LeserInnen zu gewinnen (krass!)!

Zum Nachhören zum Beispiel auf dem offiziellen Youtube-Kanal. Das Video ist ein skurriles Gedicht für sich:

 

"wer sagt denn das" von Deichkind
Plattencover-Abbildung (Deichkind)

 

 

 

 

Deichkind: richtig gutes zeug
in: Wer sagt denn das?
Vinyl, 2 LPs

 

 

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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