Dichterbriefe – Folge 25: Jenseits von Technokratie und Populismus – Christophe Fricker schreibt den DAS GEDICHT blog-Kolumnisten

Christophe Fricker schreibt jeweils am 1. des Monats einem Dichterfreund, dessen Buch er gerade gelesen hat. Die Texte sind eine Mischung aus Offenem Brief zu Lyrik und Gesellschaft, bewusst parteiischer Rezension und vertrautem Austausch. Und damit hoffentlich auch weniger langweilig als Rezensionen, die ihre eigene Voreingenommenheit vertuschen.

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

der neue Bundestag ist gewählt, und das Ergebnis hat die Einen schockiert und die Anderen begeistert. Die Volksparteien sind so klein wie noch nie, ein Viertel der Abgeordneten wünscht sich einen radikalen Umbau von Staat und Gesellschaft, alternativlose Koalitionen werden immer bunter, ein Herr im Tweed, der schon Minister war, als ich noch zur Grundschule ging, schwärmt vom Jagen, und die Kanzlerin denkt bei Problemen zuerst an Nordkorea. Im Angesicht völkischer Volksvertreter wollen die Parteien der Mitte nun über Inhalte reden.

Der neue Bundestag ist gewählt, und wir? Wir Kolumnistinnen und Kolumnisten, die wir uns regelmäßig auf dieser Webseite zur Lyrik äußern, treffen uns Ende Oktober im Kloster Benediktbeuren, um über die Zukunft von Gedichten zu sprechen.

Das riecht nach Eskapismus. Wer das, wie ich, für einen Vorwurf hält, der darf, während die Parteien der Mitte im Angesicht völkischer Volksvertreter über Inhalte reden, nicht nur über Formen reden. Die Parteien der Mitte wollen Probleme lösen und denken, dass sie damit Hass und Gewaltbereitschaft den Boden entziehen. Im Angesicht völkischer Volksvertreter haben Dichter manchmal die Neigung, über Probleme der Lyrik zu reden und zu denken, dass der Stellenwert von Hass und Gewaltbereitschaft dadurch abnimmt.

Ich glaube aber nicht, dass die politische Kultur gesundet, wenn die Arbeitslosenzahl oder der Ausländeranteil oder der Mietpreis sinkt. Wer nur über Inhalte reden und Probleme lösen will, hat die aktuellen Herausforderungen nicht verstanden. Kurz nach der Wahl habe ich mit einem Kollegen gesprochen, der verblüfft war, wie unterschiedlich die »Bilder der Welt« sind, die Menschen in Deutschland haben. Hier liegt der Hase im Pfeffer. Es geht in den Kämpfen, die wir heute miterleben, um Bilder der Welt, um Vorstellungen von Gemeinschaft, um inspirierende Ideale des Zusammenlebens, um ein Gespür für Zugehörigkeit.

Hier hat die Dichtung von jeher eine Rolle gespielt. Sie stiftete Vorbilder, lieferte Losungen, ließ sich singen, ermöglichte Orientierung und brachte Menschen miteinander ins Gespräch. Sie entwarf Bilder der Welt. Im 20. Jahrhundert haben viele Dichter bestritten, dass all dies zu ihren Aufgaben gehört. Sie haben eine Form von Lyrik vertreten, die nicht Kommunikation sein wollte.

Es wäre schön, wenn wir uns in Benediktbeuren darüber verständigen könnten, dass diese Zeit vorbei ist. Wenn wir heute davon sprechen, dass wir in einem zerrissenen Land leben, müssen wir auch benennen, wie die beiden Seiten heißen, die das politische Leben dominieren. Sie heißen Populismus und Technokratie. Wer nur diese beiden Pole kennt, kann gegen den Riss nichts tun. Wir müssen eine Dichtung vertreten und fördern, die stattdessen Bilder der Welt entwirft und die mit ihren Zuhörern und Leserinnen das Gespräch über Bilder der Welt führt und die dadurch das Gespür dafür weckt, dass wir Menschen aufeinander angewiesen sind.

Das Gespräch, das Hölderlin zum Ideal der Dichtung erklärte und das mit dem Gemeinsinn so eng verbunden ist, hat viel mit Vorbildern und Losungen, mit Liedern und Orientierung zu tun. Lassen Sie uns gemeinsam ausloten, wie viel.

Vorfreudige Grüße
Christophe
 

Christophe Fricker. Foto: © Chiara Dazi
Christophe Fricker.
Foto: © Chiara Dazi

Christophe Fricker, geb. 1978, schreibt über die Möglichkeiten von Freundschaft, die Grenzen des Wissens und die Unwägbarkeiten der Mobilität. Mit Tom Nolan und Timothy J. Senior veröffentlichte er den zweisprachigen, illustrierten Gedichtband »Meet Your Party«. 2015 gab er die »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung« zwischen Ernst Jünger und André Müller heraus, die das Deutschlandradio eine »Sensation« nannte. Frickers Buch »Stefan George: Gedichte für Dich«, eine Einführung in das Werk Georges, stand auf Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste. Für den Gedichtband »Das schöne Auge des Betrachters« wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet. Alle bereits erschienenen Folgen von »Dichterbriefe« finden Sie hier.

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