Im babylonischen Süden der Lyrik – Folge 42: »UNESCO-JAHR DER ›INDIGENEN‹ SPRACHEN 2019 ODER VON ALEMANNISCHER, JIDDISCHER, NAHUATL- UND SORBISCHER BIS ZIMBRISCHER POESIE«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Was für einer bewundernswert grandiosen babylonischen und also poetischen Vielfalt gehören wir wirklich an! Als wäre es irgendwie nur schwierig vorstellbar oder eben doch auch geradewegs nicht: Ungefähr zweitausendsechshundertachtzig (2.680!) heimische Sprachen sind weltweit bedroht und können in naher Zukunft unwiderruflich verlorengehen. In gut neunzig Ländern leben etwa dreihundertsiebzig Millionen Menschen, die rund fünftausend ursprünglichen Kulturen in zirka viertausend ureigenen Sprachen und ihrer jeweils eigenständigen Poesie zugehören. Ein starkes Stück, genauer gesagt: etwas mehr als ein Drittel von allem. Das ist unser immenses und schwindendes Weltkulturerbe!

Deshalb widmet die UNESCO das ganze Jahr 2019 den »indigenen« Sprachen. Hinzuzuzählen sind in meinen Augen und für meine Ohren eigentlich auch hiesig »indigene«, deutsche »indigene«, mitteleuropäisch »indigene« sowie weitere europäische »indigene« Sprachen, darunter Alemannisch, Aragonesisch, Bairisch, Burgenlandkroatisch, Fränkisch, Friaulisch, Friesisch, Jiddisch, Kaschubisch, Landlerisch, Normannisch, Rätoromanisch, Romani, Sephardisch, Siebenbürgisch-Sächsisch, Sorbisch, Südjütisch, Wilmesaurisch oder Zimbrisch samt jeweiliger Poesie, um allein 19 potentiell bis ernsthaft gefährdete Sprachen zu nennen.

Logo der UNESCO zum Internationalen Jahr der indigenen Sprachen 2019
Logo der UNESCO zum Internationalen Jahr der indigenen Sprachen 2019

Das Internationale UNESCO-Jahr der indigenen Sprachen 2019 geht wesentlich auf die bemerkenswerte Initiative des plurinationalen Staates Bolivien zurück. Bolivien verankerte vor inzwischen 10 Jahren in der lobenswert plurinationalen neuen Verfassung alle 36 indigenen Sprachen in seinem Artikel 5.1 als bolivianische Amtssprachen: »Amtssprachen des Staates Bolivien sind das Spanische und alle Sprachen der originären Nationen und Völker, und zwar das Aymara, Araona, Baure, Bésiro, Canichana, Cavineño, Cayubaba, Chácobo, Chimán, Ese Ejja, Guaraní, Guarasu’we, Guarayu, Itonama, Leco, Machajuyai-Kallawaya, Machineri, Maropa, Mojeño-Trinitario, Mojeño-Ignaciano, Moré,  Mosetén, Movima, Pacawara, Puquina, Quechua, Sirionó, Tacana, Tapiete, Toromona,  Uru-Chipaya, Weenhayek, Yaminawa, Yuki, Yuracaré und das Zamuco.« (In Kraft seit dem 25. Januar 2009)

In Mexiko hingegen (ohne vergleichbare plurinationale Verfassungsreform) gibt es neben der »postkolonialen« Amtssprache Spanisch insgesamt 68 indigene Sprachen, von denen 31, fast die Hälfte, bald nicht mehr sein würden. Der zweisprachige mexikanische Nahuatl-Dichter Natalio Hernández Xocoyotzin verweist regelmäßig auf das nachfolgende Gedicht des mexikanischen Schriftstellers und Philosophen Miguel León-Portilla, wenn das Problem verschwindender Sprachen mit dem einhergehenden Verlust von Identität und geistiger Heimat auf einen poetischen Nenner zu bringen ist.

 

Miguel León-Portilla

Cuando muere una lengua

Cuando muere una lengua
las cosas divinas,
estrellas, sol y luna;
las cosas humanas,
pensar y sentir,
no se reflejan ya
en ese espejo.

Cuando muere una lengua
todo lo que hay en el mundo,
mares y ríos,
animales y plantas,
ni se piensan, ni pronuncian
con atisbos y sonidos
que no existen ya.

Cuando muere una lengua
entonces se cierra
a todos los pueblos del mundo
una ventana, una puerta,
un asomarse
de modo distinto
a cuanto es ser y vida en la tierra.

Cuando muere una lengua,
sus palabras de amor,
entonación de dolor y querencia,
tal vez viejos cantos,
relatos, discursos, plegarias,
nadie, cual fueron,
alcanzará a repetir.

Cuando se muere una lengua,
ya muchas han muerto
y muchas pueden morir.
Espejos para siempre quebrados,
sombra de voces
para siempre acalladas:
la humanidad se empobrece.

© Miguel León-Portilla

 

Miguel León-Portilla

Wenn eine Sprache stirbt

Wenn eine Sprache stirbt,
spiegeln sich nicht mehr
die himmlischen Dinge,
Sterne, Sonne und Mond,
die menschlichen Dinge,
Denken und Fühlen,
in jenem Spiegel wider.

Wenn eine Sprache stirbt,
wird alles, was es auf der Welt gibt,
Meere und Flüsse,
Tiere und Pflanzen,
weder gedacht noch mit Zwinkern
und Klängen ausgesprochen,
die nicht mehr existieren.

Wenn eine Sprache stirbt,
dann schließt sich
für alle Völker der Welt
ein Fenster, eine Tür,
ein Blick,
der anders ist
hinsichtlich des Seins und Lebens auf der Erde.

Wenn eine Sprache stirbt,
seine Liebesworte,
die Intonation von Schmerz und Zuneigung,
vielleicht alte Lieder,
Erzählungen, Reden, Gebete,
wird niemand es schaffen,
sie so, wie sie waren, zu wiederholen.

Wenn eine Sprache stirbt,
sind viele schon gestorben
und können etliche sterben.
Für immer zerbrochene Spiegel,
Schatten von Stimmen,
für immer zum Schweigen gebracht:
die Menschheit verarmt.

© Miguel León-Portilla
Übersetzt von Juana & Tobias Burghardt

Um dieser zunehmenden Verarmung ein wenig entgegenzuwirken, lohnt es sich allemal & jederzeit, die ureigenen poetischen Stimmen zumindest einer »indigenen« Sprache wiederzuholen, innerlich zu erleben, erneut zu erinnern und allmählich zu verinnerlichen – oder auch zwei, drei und vielleicht noch weiterer davon, etwa den guatemaltekischen Maya-Dichter Humberto Ak’abal, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 5  und Folge 6, den bolivianischen Lyriker Pedro Shimose, Folge 21, oder die mexikanisch-zapotekische Dichterin Natalia Toledo, Folge 35.

Dieses Gedicht war übrigens ursprünglich dem mexikanischen Dichter, Schriftsteller und Übersetzer Carlos Montemayor gewidmet, der sich leidenschaftlich für indigene Literaturen engagiert hatte. Hier folgt die Fassung auf Nahuatl:

 

Miguel León-Portilla

Ihcuac tlahtolli yemiqui

Ihcuac tlahtolli ye miqui
mochi in teoyotl,
cicitlaltin, tonatiuh ihuan metztli;
mochi in tlacayotl,
neyolnonotzaliztli ihuan huelicamatiliztli,
ayocmo neci inon tezcapan.

Ihcuac tlahtolli ye miqui,
mochi tlamantli in cemanahuac,
teoatl, atoyatl,
yolcame, cuauhtin ihuan xihuitl
ayocmo nemililoh, ayocmo tenehualoh,
tlachializtica ihuan caquiliztica
ayocmo nemih.

Ihuac tlahtolli ye miqui,
quinihcuac motzacua
nohuian altepepan
in tlanexillotl, in quixohuayan.
In ye tlamahuizolo
occetica in mochi maniihuan yolo in tlalticpac.

Ihcuac tlahtolli ye miqui,
itlazohticatlahtol,
imehualiz eletemiliztli ihuan tetlazotlaliztli,
ahzo huehueh cuicatl,
ahnozo tlahtolli, tlatlauhtiliztli,
amaca, in yuh ocatcah,
hueliz occepa quintenquixtiz.

Ihcuac tlahtolli ye miqui,
occequitin ye omiqueh
ihuan miec huel miquizqueh.
Tezcatl maniz puztecqui,
netzatzililiztli icehuallo
cemihcac necahualoh:
totlacayo motolinia.

© Miguel León-Portilla

Traducido del castellano al Nahuatl por Reyna Alvarado Reyes
Aus dem Spanischen ins Nahuatl übersetzt von Reyna Alvarado Reyes

Im vergangenen Jahr zeigte das Berliner »Museum für Kommunikation« die Ausstellung »Was fremde Sprachen anders machen« und die Journalistin Wibke Bergemann verfasste dazu interessante »Letzte Worte: Was wir verlieren, wenn eine Sprache stirbt« im Deutschlandradio.

Geschätzte siebentausend (7.000!) Sprachen spricht der Mensch weltweit. Die Hälfte der Weltbevölkerung spricht in einer der 19 meistgesprochenen Sprachen, zu denen Bangla, Hindi, Panjabi, Persisch, Malaiisch, das südindische Tulugu sowie Urdu mit einer jeweiligen Poesietradition samt poetischer Gegenwart gehören. Die andere babylonische Hälfte der Menschheit spricht, dichtet, singt in feinen kleinen oder indigenen, kleineren, kleinsten und schwindenden Sprachen. Darunter gibt es zahlreiche, die sind in sich schon selbst pure Poesie. Selbstredend gestaltet eine jede Sprache unserer Welt vielschichtige morphologische beziehungsweise umfassende syntaktische Strukturen im Blicknetz von Wahrnehmung, Wirklichkeit und Erkenntnis.

Postskriptum: Am 28. Januar 2019 verstarb völlig überraschend der guatemaltekische Maya-Dichter Humberto Ak’abal in Guatemala-Stadt. Ein Nachruf folgt demnächst.

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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