Im babylonischen Süden der Lyrik – Folge 46: »KOLUMBIANISCHE POESIE – HENRY LUQUE MUÑOZ: ›BUMERÁN – BUMERANG‹«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Am 22. März 2019 wäre der kolumbianische Dichter Henry Luque Muñoz 75 Jahre alt geworden. In letzter Zeit habe ich öfters an ihn gedacht. Nicht zuletzt, da wir mit dem heute in Buenos Aires lebenden kolumbianischen Dichter Fredy Yezzed lange über ihn und seine unvergesslich guten Gedichte sprachen, als wir im Oktober 2018 im orientalischen Omnibus von Montevideo ins uruguayische Landesinnere nach Florida fuhren. Fredy Yezzed, der einst bei ihm studiert hatte, gab vor wenige Jahre in Bogotá eine umfangreiche Werkanthologie mit bislang unveröffentlichten Gedichten von Henry Luque Muñoz unter dem Gedichttitel-Zitat »La risa del ahorcado« (Das Lachen des Gehängten) heraus. Wir sind dabei im Rahmen des neugegründeten »Internationalen Poesiefestivals in Uruguay« unterwegs gewesen, siehe dazu auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 39.

Der kolumbianische Dichter Henry Luque Muñoz
Der kolumbianische Dichter Henry Luque Muñoz (Foto Delta-Archiv, Stuttgart)

In vielen seiner tiefgründigen Gedichte verwandelte Henry Luque Muñoz auch die zwölfjährigen Erfahrungen in fremden Ländern und Kulturen wie China, Japan, Indien, Schweden, Spanien, Afghanistan, Marokko und vor allem Russland. Der Dichter, Übersetzer aus dem Russischen ins Spanische, gemeinsam mit seiner Frau Sara González Hernández, und exzellente Literaturkritiker lehrte lange Jahre an der Pontificia Universidad Javeriana und an der Fakultät für soziale Kommunikation und Journalismus der kolumbianischen Universität Externado. Am 1. März 2005 starb Henry Luque Muñoz unerwartet in Bogotá. Zu jener Zeit übersetzten und veröffentlichten wir seine zweisprachige Werkauswahl »Alquimista de sueños – Alchimist der Träume«, die wir kurz darauf im Literaturhaus Berlin zusammen mit dem kolumbianischen Schriftsteller Memo Anjel vorstellten.

 

 

 

Video-Mitschnitt vom VI Festival Internacional de Poesía en Medellín 1996 (Prometeo)

 

HENRY LUQUE MUÑOZ

BUMERÁN

Yo que hice el largo salto en el Transiberiano,
que conocí los vientos de Kabul,
la gruesa nieve de Petersburgo,
que bebí la salada leche de yegua en la cual se hechizó
Gengis Kan.
Yo que toqué a una puerta en Milos y en Isquia,
que he visto a los murciélagos proteger
la Biblioteca de Coimbra
y ascendí las pirámides de Tikal hasta las nubes.
Yo que me arrastré por el Sahara tras el atardecer,
que en Delfos hablé con el oráculo
y soñé víboras en la esbelta Sarajevo
mientras en la calle Tome Masarika
se desnudaba mi sombra.
Yo que en Delhi vi a los muertos sacudirse el polvo,
que he mirado a los ojos a las deidades de Nara
y respiré cenizas en el Ganges.
Yo que contrarié a las divinidades chinas
en subversivos papiros que de tiempo inmemorial
circularon por la Ciudad Prohibida,
que acaricié a una virgen del siglo XII
mientras mordía mustias hojas de otoño.
Yo que acuné mi timidez en el trono de un rey,
que hice el misterioso vuelo hasta el paraíso
de unos abrazos
lo que de verdad recuerdo, es el barrio en que nací.

 

HENRY LUQUE MUÑOZ

BUMERANG

Der ich den weiten Satz in der Transsib machte,
die Winde Kabuls kennenlernte,
den groben Schnee von Petersburg,
der ich die salzige Stutenmilch trank, in die sich
Dschingis Khan verzauberte.
Der ich an eine Tür in Melos und Ischia klopfte,
der ich die Fledermäuse
die Bibliothek von Coimbra behüten sah
und auf den Pyramiden von Tikal zu den Wolken stieg.
Der ich nach der Dämmerung durch die Sahara kroch,
der ich in Delphi mit dem Orakel sprach
und im hübschen Sarajevo Giftschlangen erträumte,
während sich auf der Straße Tome Masarika
mein Schatten entblößte.
Der ich in Delhi die Toten den Staub abschütteln sah,
der ich den Gottheiten von Nara in die Augen schaute
und Asche am Ganges atmete.
Der ich den chinesischen Götterweibern widerstand,
auf subversiven Schriftrollen, die seit Menschengedenken
in der Verbotenen Stadt kursierten,
der ich eine Jungfrau des 12. Jahrhunderts streichelte,
während sie verwelkte Herbstblätter kaute.
Der ich meiner Scheu auf einem Königsthron frönte,
der ich den geheimnisvollen Flug in das Paradies
etlicher Umarmungen machte,
woran ich mich wirklich erinnere, ist das Viertel, in dem ich zur Welt kam.

 

Übertragen von Juana & Tobias Burghardt

 

Werkauswahl von Henry Luque Muñoz
Cover (Editorial Javeriana) der kolumbianischen Werkauswahl von Henry Luque Muñoz

 

 

 

 

 

 

Henry Luque Muñoz gehört zum poetischen Kanon Kolumbiens und Lateinamerikas. Würde er in einer aktuellen Anthologie spanischsprachiger Poesie der beiden Kontinente fehlen, wäre dies ein Makel.

 

 

 

Coverabbildung (Edition Delta)
Coverabbildung (Edition Delta)

 

 

 

 

 

 

»Alquimista de sueños – Alchimist der Träume« von Henry Luque Muñoz bei Edition Delta

 

 

 

 

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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