Neugelesen – Folge 21: Catherine Vidler »lost sonnets. 3rd iteration«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

In der letzten Folge Neugelesen haben wir uns konkrete poesie (sic) angesehen. Eine Gedichtform, die das materiale Schriftbild in den Vordergrund rückt. Die Idee, Bildliches mit Textlichem zu verbinden, war in den 1950er Jahren nicht neu, aber bekam einen neuen Anstrich, eine andere Qualität und kritischere Aufmerksamkeit. Derlei Experimente begannen jedoch schon in der Antike und kamen immer wieder einmal unter die Leute. Ganz allgemein spricht man dann auch von visueller Poesie.
Ein Trend in der visuellen Poesie heute ist die Verwendung von digitalen Verfahren, die häufig sehr komplexe Ausmaße annehmen können. So etwa Catherine Vidlers lost sonnets. 3rd iteration, aus der Edition Taberna Kritika. Vidlers lost sonnets ist die computergestützte, visuell-poetische Neuinterpretation von Shakespeare-Sonetten (man kann sagen, es sind Gedichte mit Tradition). Dieser Band ist der dritte Versuch. Vidler hat für die drei Bände jeweils unterschiedliche Herangehensweisen gewählt, die lose miteinander zusammenhängen. Ohne im Detail auf die verwendeten Werkzeuge und Methoden einzugehen, haben die äußerlich nichts mehr mit Sonetten gemein habenden Gebilde dann doch einen gemeinsamen Kern mit Sonetten: Sonette sind auf ganz bestimmte Weise definiert in ihrer Form, ihrem Rhythmus und auch inhaltlich gibt es Leitlinien (sofern man es streng nimmt). Vidler hat sich eine konkrete Herangehensweise zurechtgelegt und diese mit dem Material von Shakespeare gefüllt. Dies betrifft die Textebene.

Auf visueller Ebene hat sich Vidler der Funktion „Symbol einfügen“ von MS Word bedient und diese dann weiter mit Paint modifiziert. Klingt nicht gerade vielversprechend. Doch die Künstlerin erreicht durch Inbeziehungsetzen ihrer Symbolkonglomerate mit dem Text eine sehr spezifische Wirkung. Es sind vom ersten Blick an technische Produkte, Medienkunst. Der Text selbst gerät in den Hintergrund, auch wenn er nicht fehlen darf. Die präzisen Linien und Pfeile, die an Paul Klee erinnern, monochrome Flächen und Farbgewitter, die regelrecht lodern, sind hier die Hauptdarsteller. Doch man muss aufmerksam sein. Im Wissen darum, dass das Ausgangsmaterial von Shakespeare stammt, erstaunt es, was in der technisch produzierten Rekombination der Worte alles so entsteht, wie etwa: „a heaven‘s | glorious when“. Ein sakraler Gedanke durch profane Maschinen konstruiert. Dann wieder rücken die Textflächen auf die Ebene der Symbolik, also auf die visuelle Ebene, und verlieren ihren sprachlichen Gehalt zugunsten ihrer Gestalt. Ein spannendes Flackern entsteht.
Man kann diesem Trend allgemein vorwerfen, er sei Fleißarbeit auf Kosten künstlerischer Freigeistigkeit. Andererseits haben sich Künstlerinnen und Künstler schon immer neuer Techniken und Methoden bedient, um ihre Potenziale aufzusuchen; heute sind dies eben zumeist digitale. Das interessante an Vidlers Kunst ist, dass sie Vertrautes zu Merk-Würdigem macht. Obschon ich zugeben muss, dass es nicht die zugänglichste visuelle Poesie da draußen ist, die etwas Willen und Bereitschaft verlangt, und vielleicht sogar etwas Mut. Andererseits hat jede gute Kunst es verdient, länger als 30 Sekunden Aufmerksamkeit zu bekommen, so auch Vidlers visuelle Medienkunstpoesie.

 

"lost sonnets. 3rd iteration" von Catherine Vidler
Buchcover-Abbildung (edition taberna kritika)

 

 

 

 

 

 

 

Catherine Vidler
lost sonnets. 3rd iteration
edition taberna kritika, Bern
Softcover, 100 Seiten
ISBN 978-3-905846-53-9

 

 

 

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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